Sonntag, 24. Juli 2016

Epilog

Liebe LeserInnen,

über mein Blog habe ich nun mehrere Jahre meine Meinung kundgetan und Euch auch mit (wie ich hoffe) interessanten Berichten einiger meiner Reisen und Unternehmungen versorgt. Hiermit schließe ich nun dieses Blog-Projekt, das mich seit Sommer 2010 begleitet hat.


Alles hat seine Glanzzeiten, aber alles überschreitet irgendwann auch seinen Höhepunkt. In den letzten zwei Jahren konnte ich hier meine eigene rote Linie nicht mehr so richtig finden, dabei bin ich doch ein großer Fan von Regelmäßigkeit und Konstanz. Doch so schnell wie sich die Welt heute verändert, wer hat da schon die Zeit und die Muße alles ausführlich zu kommentieren. Und außerdem, muss überhaupt alles von jedem kommentiert werden? Ich werde mich in nächster Zeit anderen Dingen zuwenden und an denen sicherlich genauso viel Freude haben wie an diesem Blog. Bei gegebener Zeit und gegebenem Anlass beabsichtige ich aber mein publizistisches Comeback zu feiern. Mein Blog wird natürlich weiter bestehen bleiben, als stilles Denkmal eines lebhaften, bunten, wichtigen und aufregenden Abschnitt meines Lebens. Sollte ich irgendwann wieder zur Feder... zur Tastatur greifen, um der Welt meinen Senf beizusteuern, so werde ich es Euch hier wissen lassen.

Gehabt Euch wohl und mischt Euch immer schön ein! :-)

Euer Thorschten


Mittwoch, 10. Februar 2016

Racial Profiling an Karneval (Kommentar)

„Die Kölner Polizei hat an ‪Karneval wieder reichlich zu tun“, meldet der WDR. Die Polizei sei diesmal sehr konsequent eingeschritten, von 1.100 Einsätzen ist die Rede – das sind 200 mehr als letztes Jahr. „Die Zahl der Einsätze, Platzverweise und Festnahmen ist zum Teil stark gestiegen. Der Polizeipräsident und die Oberbürgermeisterin werten aber gerade das als Erfolg.“ – Natürlich finde ich es gut, dass man die Fehler von Silvester an Karneval verhindern wollte und auch verhindert hat. Wenn man allerdings als kleine Gruppe jordanischer Austauschstudenten auf der Fahrt von Aachen nach Hamm eine halbe Stunde Aufenthalt in ‪‎Köln hat und einen Abstecher zum Dom wagt, dann kann es schnell passieren, dass man von der Polizei mit anderen Arabern, Türken und Afrikanern zusammengetrieben und kontrolliert wird. Es habe Beschwerden über arabisch aussehende Männer in dieser Gegend gegeben, heißt es dann. Austauschstudenten werden zwar ganz vorne in der Reihe platziert, aber dennoch werden alle ihre Personalien aufgenommen, sie werden von der Polizei nummeriert und sogar fotografiert. Die Handys werden untersucht und nebenbei erfasst man auch alle für eine Handy-Ortung notwendigen Daten. Dann darf man gehen – mit der Belehrung, dass man direkt ins Gefängnis wandern würde, sollte man Köln nicht innerhalb der nächsten halben Stunde verlassen haben. Die Kontrolle selbst kostet die Studenten 40 Minuten, einige Beamte sind freundlich, andere unheimlich respektlos. Deutsche Passanten, obgleich teilweise stark alkoholisiert, bleiben von den Kontrollen verschont, einer pinkelt sogar vor den Augen der Polizisten auf die Straße. Obwohl der erfolgreiche Polizeieinsatz ausschließlich arabisch aussehenden Männern gilt, bei der Polizeidienststelle reagiert man auf kritische Nachfragen wütend, von „racial profiling“ will man hier natürlich nichts wissen. Arabische Männer als potenzielle zukünftige Straftäter vorsorglich zu erfassen – sinnvoll, gerechtfertigt, notwendig? Vielleicht. Japaner, Dänen und US-Amerikaner geraten aber wegen ihres Aussehens auch nicht in Kontrollen. Es bleibt also unschön, diskussionswürdig und zumindest zur Kenntnis zu nehmen.

Samstag, 23. Januar 2016

Solidarität - Ein vergessener Wert

Solidarität als Begriff ist bis heute zunehmend in Vergessenheit geraten. Dabei sprach Richard von Weizsäcker, der damalige Bundespräsident, schon 1986 diese Worte: „Nur eine solidarische Welt kann eine gerechte und friedvolle Welt sein.“ – Haben wir uns diesen Satz, in dem auch eine klare Aufforderung steckt, zu Herzen genommen?

Im Jahre 1986 bestimmte noch der Kalte Krieg das politische Klima in Europa und Solidarität war – mit der oben zitierten Ausnahme – vor allem im Osten ein Begriff. Die Arbeiterbewegung beschreibt sie als „Tugend der Arbeiterklasse“, in der sozialistischen DDR war Solidarität daher ein wichtiges Schlagwort. Nach der Wiedervereinigung scheint mit dem Sozialismus auch das einschlägige Vokabular verschwunden zu sein. In unseren Tagen begrenzt sich Solidarität deshalb in erster Linie auf Finanzspritzen: Bankenrettung in Griechenland, „Solidaritätszuschlag“ an Ostdeutschland – dies alles geschieht stets unter lautem Protest, die Geber suhlen sich im Selbstmitleid der angeblich Betrogenen. Dabei muss Solidarität noch viel mehr sein als Geld und finanzielle Zuwendung. Günter Grass hat einmal so etwas Ähnliches gesagt wie: „Die Werte einer Solidargemeinschaft lassen sich nicht an der Börse handeln.“ – Und er hatte Recht.

Doch was ist Solidarität eigentlich? Als die Familie meines Vaters in den 1980er Jahren aus Rumänien nach Westdeutschland übersiedelte, war Europa durch den Eisernen Vorhang geteilt. Man bezahlte mit D-Mark und es gab auch noch die gelben Telefonzellen, die heute fast gänzlich aus dem Stadtbild verschwunden sind. In einer solchen Telefonzelle fand einer meiner frisch in der Bundesrepublik angekommenen Verwandten drei Mark, die dort einfach so lagen, oben über der Telefonhalterung. Jemand hatte sie dort liegen gelassen. Ob es nun eine uneigennützige Gabe für bargeldlose Anrufer war, aus einer guten Laune heraus, oder ob der unbekannte Telefonbenutzer sie einfach dort vergessen hatte –  eine winzige, nahezu unbedeutende Spende, die jedoch viel bewirkt hat: Diese kleine, stets als Akt der Solidarität interpretierte Tat ist bis heute im Gedächtnis meiner Familie geblieben, auch nach mehr als dreißig Jahren. Daraus wird deutlich, welch große Wirkung Solidarität haben kann, auch wenn sie im Kleinen beginnt. Etwas Ähnliches findet man in einigen Cafés, in denen man zwei Getränke kaufen kann, aber nur eines selbst trinkt. Bedürftige Personen können sich auf diese Weise einen heißen Drink abholen, für den eine gute Seele schon aufgekommen ist. „Nimm eins, zahl zwei“ – kein Sonderangebot in einer konsumgesteuerten Zeit, sondern der erste Schritt zu einer wärmeren Gesellschaft, deren Kraft auch frierende Obdachlose im Magen spüren können.

Doch was im Kleinen beginnt muss wachsen. Nur eine solidarische Welt kann eine gerechte und friedvolle Welt sein. Richard von Weizsäcker starb im Jahr 2015, als die Flüchtlingskrise ihren ersten Höhepunkt erreicht hatte. Seit seiner Rede 1986 hat sich die Welt gewandelt. Sie ist nicht besser und nicht schlechter geworden, doch sie ist mit Sicherheit nicht solidarisch. Dass selbst die, die sich dieses Wort einst auf die Fahnen geschrieben haben, sein großes Gewicht vergessen zu haben scheinen, zeigt auch ein Blick nach Polen: Der Elektriker Lech Wałęsa hatte in den 1980ern aus einer Streikbewegung die Gewerkschaft Solidarność (dt. „Solidarität“) gegründet, die mit der Unterstützung von Intellektuellen und der Kirche einen Zusammenhalt über die Standesgrenzen hinweg schuf. Obwohl selbst aus dem Geiste des Kommunismus entsprungen, brachte diese Solidarität das ungerechte kommunistische Regime in Polen neun Jahre später zu Fall. Derselbe Lech Wałęsa, der einen Friedensnobelpreis trägt, sprach sich 2015 in erschütternder Deutlichkeit gegen die Aufnahme von Flüchtlingen aus. Aus seinen in einem Interview getätigten Aussagen, die einen an mehreren Stellen heftig schlucken lassen, lässt sich schließen, dass Solidarität selbst im sozialistischen Osten in erster Linie eine nationale Angelegenheit war und bis in unsere Tage eine solche geblieben ist.

Solidarität wird auch heute noch zu oft ausschließlich national begriffen, dabei sollte sie doch grenzüberschreitend sein. Sowohl Länder- und Staatsgrenzen als auch Barrieren innerhalb unserer eigenen Gesellschaft könnten durch eine Verbundenheit der Menschen auf der untersten, menschlichen Ebene überwunden werden. Denn Solidarität ist nichts, was von der Politik gesetzlich verordnet werden kann. Sie ist dennoch einer von den Werten, über die alle reden, an denen es uns aber mangelt.

Solidarität als Mutter des Mitgefühls, der Feinfühligkeit und des Respekts ist nicht nur in Notzeiten gefragt, nach Tsunamis oder Erdbeben. Feingefühl will den Verletzten, den Missbrauchten der Gesellschaft jeden Tag entgegengebracht werden. Mitgefühl und Verständnis benötigen heimatlose Flüchtlinge, genauso wie die Diskriminierten, die hierzulande noch immer leiden müssen, weil sie anders sind. Die Bedingung für ein solidarisches Miteinander ist der Respekt. Doch er fehlt so oft, wenn wir Debatten über die Köpfe derjenigen hinweg führen, die eigentlich am meisten betroffen sind und die dennoch kaum zu Wort kommen. Solidarität muss im Zentrum der Gesellschaft verwurzelt sein, doch hier verläuft jene Kluft, welche sich in diesen stürmischen Tagen immer weiter vor uns und zwischen uns auftut. Wir müssen heute dringender als irgendwann zuvor im kleinen Rahmen wieder lernen, was wir im Großen umsetzen sollten: Das „Wir“ entdecken, ohne das „Andere“ auszustoßen. Das Boot, in dem wir alle sitzen, beginnt nur dann zu sinken, wenn wir uns gegenseitig zerfleischen. Solidarität ist keine harte Arbeit und sie muss auch nicht teuer sein. Sie ist eine Frage des Willens und des Loslassens all der Einwände, die uns und anderen noch das Leben schwer machen. Und sie ist für jede Gesellschaft überlebenswichtig.

Samstag, 21. November 2015

Deutschland und die Einwanderung (Fundstück)

Ich bin auf einen sehr interessanten Text gestoßen, der im Hinblick auf die Einwanderung der türkischen Minderheit ganz gut erklärt, weshalb Deutschland beim Thema Migration und Integration anderen Ländern hinterherhinkt. Der Text stammt aus einem Länderporträt von Jürgen Gottschlich über die Türkei, doch im Kontext aktueller Diskussionen, die seit Jahren anhalten und heute aktueller denn je sind, lohnt sich die Lektüre einiger Auszüge:

[…] Die sogenannten Gastarbeiter der ersten Stunde erzählen heute noch kopfschüttelnd, wie sich damals in den Dörfern Anatoliens das Gerücht verbreitete, in diesem fernen Deutschland könne man unendlich viel Geld verdienen.
Doch der Weg dorthin war lang und schwierig. Es gab deutsche Anwerbekommissionen, die in den größeren Städten Stationen eingerichtet hatten, in denen die Leute vorsortiert und einem ersten Gesundheitscheck unterzogen wurden. Bevor jemand das Ticket zu einer Zugfahrt nach Norden bekam, musste er sich dann zumeist noch zwei weiteren gründlichen Untersuchungen stellen, um sicher zu gehen, dass die deutschen Firmen auch nur bestes „Material“ anwarben. Fast alle berichten, dass die Ankunft in Deutschland für sie ein Schock war. Der Mangel an Verständigung, die völlig andere Umgebung und die Unterbringung in tristen Baracken, die zum Teil schon als Unterbringung für die Zwangsarbeiter im Dritten Reich gedient hatten, machten ein Ankommen in Deutschland nicht leicht. Aber die Männer – es waren ja ganz überwiegend Männer, die angeworben wurden – hatten den sozialen Zusammenhalt untereinander, und sie hatten ihren Arbeitsplatz.
Ihre Arbeit gehörte durchgängig zu den körperlich schwersten, am schlechtesten bezahlten und mit dem geringsten Prestige verbundenen Tätigkeiten, die in Deutschland zu vergeben waren. Eine besondere Ausbildung war zumeist unnötig, auch Sprachkenntnisse brauchte man bis auf einige rudimentäre Brocken nicht. Es genügt, einige Befehle zu verstehen und „jawohl, Meister“ sagen zu können. Mehr war auch gar nicht gewollt, denn das Konzept der Anwerbung von Fremdarbeitern im südlichen Europa basierte auf dem Rotationsprinzip. Die Arbeiter sollten nach ein paar Jahren, die sie quasi wie auf Montage in Deutschland verbracht hatten, wieder zurückkehren und neuen „Gastarbeitern“ Platz machen. Die Rückkehr sollte vor allem so rechtzeitig geschehen, dass die Arbeiter nicht dem deutschen Sozialsystem zur Last fielen, also krank wurden oder gar Rente beziehen wollten.
Doch das Leben hält sich oft nicht an die ausgeklügelten Pläne. Mit den Jahren begnügten sich die „Gastarbeiter“ nicht mehr mit dem monotonen Wechsel zwischen Baracke und Schichtarbeit, sondern sie begannen, ihre neuen Umgebungen zu erkunden. Zuerst die Innenstädte und Bahnhöfe, dann kamen die ersten Kontakte zu Deutschen, die über den unmittelbaren Arbeitsplatz hinausgingen. Bekanntschaften, Freundschaften, eine eigene Wohnung folgten. Manchmal wurde aus Freundschaft Liebe, und die ersten binationalen Ehen wurden geschlossen, andere begannen, ihre Frauen und Kinder nachzuholen. Obwohl schon nach wenigen Jahren klar wurde, dass aus der gedachten Rotation längst eine Einwanderung geworden war, wurde dies von der bundesdeutschen Politik schlicht ignoriert.
Das Phänomen war in allen westeuropäischen Industrienationen das Gleich, doch zwischen Deutschland auf der einen und Frankreich, Großbritannien und den Niederlanden auf der anderen Seite gab es einen großen Unterschied. Dort holte man sich den Arbeitskräftenachschub aus eigenen Kolonien oder ehemaligen Kolonien. Das hatte den Vorteil, dass man sich bereits ein wenig kannte und die Leute, die kamen, in der Regel auch Englisch, Französisch oder Niederländisch sprachen. Außerdem war man aufgrund seiner imperialen Vergangenheit nicht ganz so provinziell wie in Deutschland. Die Auslandserfahrungen der meisten deutschen Männer beschränkten sich in den 50er Jahren auf die Eroberungszüge der Wehrmacht, bei den Frauen auf Bekanntschaften mit Besatzungssoldaten. Die ersten schwarzen Gis wurden bestaunt wie Zirkusattraktionen. Der Faschismus war zwar durch eine Demokratie ersetzt worden, aber die Vorstellung vom deutschen Volk als ethnischer Einheit saß und sitzt oft bis heute noch in vielen Köpfen.
Wenn heute in Deutschland die mangelnde Integrationsbereitschaft der türkischen Einwanderer beklagt wird, unterschlägt man in der Regel, dass dazu auf der anderen Seite auch die Bereitschaft bestehen muss, vormals Fremde im eigenen Land aufnehmen zu wollen. Genau damit aber taten sich die Deutschen besonders schwer. Zu den überall existierenden Schwierigkeiten mit der Integration ethnischer Minderheiten kommt in Deutschland, anders als in Großbritannien oder Frankreich, oft bis heute noch ein völkisches Element hinzu.
Mit dieser Haltung sahen sich viele türkische Familien konfrontiert, als sie aus den Wohnbaracken der Anwerberfirmen auszogen, um sich selbst einen Platz in der Gesellschaft zu suchen. […]

(Text aus Jürgen GOTTSCHLICH: Türkei – Ein Land jenseits von Klischees, Sonderausgabe für die Zentrale für politische Bildung in Deutschland, 2008, S. 79-85)

Viele dieser Feststellungen lassen einen ersten Schluss zu, dass ein Großteil der Probleme, die wir heute in Deutschland haben, nicht nur an der Einwanderung selbst liegen, sondern am Umgang der deutschen Politik mit dem Zustrom von Arbeitskräften sowie mitunter auch an den national(istisch?)en Eigenarten der Deutschen. Mehr nachdenkliche (und teils erschreckende) Fakten und persönliche Beobachtungen aus dieser Zeit hat z.B. Günter Wallraff in seinem Buch „Ganz unten“ (1985) gesammelt.

Gastarbeiter (Foto: dpa, gesehen bei Sueddeutsche Zeitung)

Sonntag, 25. Oktober 2015

No Hogesa am Sonntag (25.10.2015)

Pünktlich zum Jahrestag der berüchtigten Hogesa-Demonstration („Hooligans gegen Salafisten“) vom Oktober 2014 haben sich auch heute wieder rechte Hooligans in Köln versammelt. Die Polizei war dieses Jahr mit 3.500 Einsatzkräften zugegen und somit bestens vorbereitet. Auch logistisch war der Große Demo-Sonntag eine Meisterleistung: Hogesa war auf den Barmer Platz hinter dem Bahnhof Köln-Messe/Deutz verbannt worden, eingekesselt und im Blick der Beamten, während die größte der insgesamt sieben Gegenveranstaltungen auf der anderen Seite stattfand, vor dem Bahnhof, auf dem Otto-Platz. Beide Lager waren getrennt durch Bahnhofsgleise, Eisenbahnbrücken und eine doppelte Reihe Polizei. Auf dem Bahnhof selbst wurden die S-Bahnen phasenweise so postiert, dass möglichst wenig Sichtkontakt bestand.


Während auf der Bühne des Aktionsbündnisses Birlikte („Zusammenstehen“) noch der Soundcheck durchgeführt wurde und sich der Otto-Platz mit den ersten hundert Menschen füllte, tröpfelten die Rechten nur sehr zäh auf dem ihnen zugeteilten Gelände ein. Um kurz nach elf wurden dort ganze elf Hooligans gezählt. Doch auch die schmaler Gebauten des neuerdings salonfähigen braunen Establishments waren angereist und suchten nach dem passenden Übergang auf ihre Seite: „Malte, ich glaube wir müssen da unten durch“ – unter dem Bahnhof traf ich zum ersten Mal auf eine Gruppe von Nazi-Hipstern, von denen nur Malte das hellbraune Haar brav gescheitelt hatte und ebenso ratlos wie seine Kameraden nach dem Weg suchte. Größere Gruppen von Rechten wurden von der Polizei begleitet und an grölenden Antifas vorbeigeleitet.
Direkt aufeinander trafen Rechte und Gegendemonstranten nur am Bahnhof. Die Antifa blockierte kurze Zeit den Zugang zu einem Gleis und verursachte damit die erste aus einer Serie von Verspätungen dieses Sonntags. Unterdessen wurden anreisende Dortmunder, Paderborner und Düsseldorfer Nazis mit Sprechchören oder (vonseiten einiger Passanten) mit spontanen Stinkefingern begrüßt. Am Himmel zog der der Polizeihelikopter eine Endlosschleife und beobachtete aufmerksam das Geschehen.


Auch dieses Jahr befürchtete man umfangreiche Ausschreitungen und Gewaltausbrüche. Die Versammlung rechter Hooligans war letztes Jahr gegen Ende ziemlich ausgeartet und besonders ein Bild mit Randalierern, die ein Polizeiauto umstürzen, ging durch die Presse. Die Erwartungen der Medien waren also auch heute sehr hoch – zumindest konnte dieser Anschein durchaus entstehen: Der Focus betitelte seinen Live-Ticker schon am Morgen mit der Frage „Köln in Aufruhr: Knallt es heute bei der Hogesa-Demo?“ und lieferte ein paar Stunden später die Bestätigung: „Hogesa: 5 Verletzte in Köln – Es droht zu knallen“. Und tatsächlich kam es zu Auseinandersetzungen zwischen linken Antifa-Aktivisten und der Polizei, die auch ihren Wasserwerfer zum Einsatz brachte, und aus den Reihen der Rechtsextremen wurden die Polizisten stellenweise mit Böllern beworfen. In den ersten Zeitungsberichten (und natürlich auch im Focus-Newsticker) war deshalb von „linken und rechten Demonstranten“ zu lesen, die von der Polizei getrennt und separat zur Abreise begleitet werden mussten. Das alles kann aber nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, dass hier nicht nur rechte und linke Krawallmacher aufeinandertrafen: Vielmehr standen sich auf der einen Seite eine eher mickrige Gruppe von knapp 1.000 Mann (und Frau) von Hogesa – denen zu Beginn sogar noch zehn (nüchterne und nicht vorbestrafte) Ordner fehlten – und auf der anderen Seite über 10.000 Gegendemonstranten aus allen politischen Lagern und aus einer Vielzahl von Initiativen gegenüber. Auf dem Otto-Platz waren alle Altersklassen vertreten,  „Köln stellt sich quer“ war wieder einmal das Motto. Die Antifa und ihre Blockadeaktionen waren gewissermaßen lediglich das Sahnehäubchen auf der Torte.


Die für den Abend angemeldete Kögida-Demonstration wurde abgesagt, die einheimischen rechten Abendspaziergänger schlossen sich stattdessen den Hooligans an. Die von einigen Zeitungen prophezeite (und fast schon herbeigesehnte) Katastrophe blieb aber aus. Eine Stadt hat gezeigt, dass sie keinen Bock auf Nazis hat. Nicht mehr und nicht weniger.

Dienstag, 20. Oktober 2015

Die Dritte Intifada & das Dilemma der moralischen Überlegenheit

Vor einer ganzen Weile hat mich ein israelischer Bekannter gefragt, ob ich wirklich der Meinung wäre, Israel sei weniger aufgeschlossen, weniger open-minded als Deutschland. Ich wollte ihm damals antworten und habe viel Zeit investiert in die Formulierung meiner Gedanken, doch nach einer Weile haben sich die Ereignisse in Deutschland und auch in Israel überschlagen, sodass ich bis heute nicht dazu gekommen bin, diese Email zu schreiben. Gerade in diesen Tagen erleben wir aber wieder einen neuen Ausbruch der Gewalt im Nahen Osten, inmitten der vielen anderen Krisenherde, die seit Jahren die Nachrichten dominieren: Zwischen Mittelmeer und Jordan bahnt sich etwas an, das viele schon jetzt als Dritte Intifada bezeichnen. Die Zahlen der Toten steigen wieder, es kommt zu Angriffen und Attentaten. Menschen fallen Messerstechern und Polizeischüssen zum Opfer. Erst kürzlich erzählte mir ein Freund aus Israel, dass er mit einem flauen Gefühl im Magen von Tel Aviv mit dem Bus nach Beersheva fuhr. Dort hatte ein Palästinenser am Tag zuvor versucht, an der Central Bus Station mit Messer und Schusswaffe ein Blutbad anzurichten. Der Freund erzählte weiter, er habe sich aber besser gefühlt, als er am Busbahnhof eine große Gruppe israelischer Jugendlicher mit der Nationalflagge habe tanzen sehen. Da kam ich ins Grübeln. Was ihm ein Gefühl der Geborgenheit vermittelt, lässt mich wiederum schlucken. Denn an genau jener Stelle hatten Passanten am Tag zuvor auch einen Eritreer zu Tode geprügelt, nachdem sie ihn für einen zweiten Attentäter gehalten hatten. Die Nerven liegen blank, und vor der Kulisse einer weiteren Zeit des Terrors geht jede Menschlichkeit verloren.
Da fiel mir wieder die Email ein, die ich schreiben wollte. Ist Israel weniger open-minded als andere Länder, als Deutschland? Ich denke, man kann Gesellschaften nur schlecht vergleichen, wenn sie sich in einer komplett anderen Ausgangssituation befinden. Und doch möchte ich den meisten Israelis sagen, dass ich sie nicht mehr verstehe – wenn ich sie denn jemals auch nur ansatzweise verstanden habe. Die israelische Gesellschaft ist entweder blind, oder sie schaut weg. Eines ist sie jedenfalls nicht: Moralisch überlegen. Es ist nicht nur ein Versäumnis der Regierung, wenn sich ultraorthodoxe Juden dazu ermutigt fühlen, auf einer Gay Pride Parade in Jerusalem junge, andersdenkende und -fühlende Menschen abzustechen. Es ist auch nicht die Schuld der Regierung, wenn Polizisten einen äthiopischstämmigen IDF-Soldaten auf offener Straße misshandeln oder einen Eritreer für einen Terroristen halten, nur weil er eine dunklere Hautfarbe hat als der durchschnittliche aschkenasische israelische Jude. Die Regierung trägt zwar die Verantwortung für die seit Jahrzehnten aufrecht erhaltene Besatzung der palästinensischen Nachbarn, doch die Gesellschaft wiederum toleriert sie. Der Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern wird durch diese Besatzung jedoch maßgeblich bedingt – doch die Gesellschaft sieht sie nicht einmal, solange man sie nicht mit ihr konfrontiert.

Symbol der Freiheit?

Natürlich haben Israelis in den letzten Jahrzehnten ihre eigenen persönlichen Erfahrungen mit dem Konflikt gemacht. Familien haben Väter oder Onkels in einem der zahlreichen Kriege mit den arabischen Nachbarn verloren, oder durch Scharfschützen bei der Feldarbeit in einem Kibbuz. Andere können sich daran erinnern, wie zur Zeit der Zweiten Intifada die Küchenfenster zum wiederholten Male wackelten, wenn sich der Attentäter in einem Jerusalemer Bus in die Luft gesprengt hat. Diesen Menschen macht es Mut, wenn die jugendlichen Massen am Unabhängigkeitstag bis in die Nacht in den Straßen tanzen und sich in blau-weiße Fahnen einhüllen. Für die junge Generation sind Blau und Weiß die Farben der Zuversicht, der Davidstern ein Symbol der Freiheit. Genau diese Flagge bedeutet für die unterdrückten Nachbarn jedoch etwas ganz anderes, wo immer sie über spontan vor Ortseingängen errichteten Checkpoints weht, die von einem Tag auf den anderen willkürlich entscheiden können, wer heute zur Schule oder zur Arbeit geht und wer nicht. An diesen Checkpoints stehen keine gesichtslosen Soldaten, sondern nahezu jeder israelische Mann und fast jede israelische Frau, die beide ihren Wehrdienst bei der Armee ableisten, und das meist auch vollem ganzem Herzen tun. Den Schrecken der Besatzung, an der sie teilhaben und bei der sie Zeuge alltäglicher Ungerechtigkeiten werden, versuchen sie nach zwei oder drei Jahren des Armeedienstes in Südamerika oder Indien zu vergessen, mit Marihuana und anderen Drogen aus dem Gedächtnis zu löschen. Nur eine kleine Gruppe ehemaliger Wehrdienstleistender berichtet von den Szenen in Hebron und anderen Orten, wo israelische Einheiten zu Übungszwecken die Wohnzimmer palästinensischer Familien in Kommandozentralen umfunktionieren und beim Abzug nach zwei, drei Tagen bisweilen die komplette Inneneinrichtung kaputtschlagen, oder der Familie sogar noch aufs zertrümmerte Sofa kacken. All dies ist man gezwungen, an der Grenze zwischen Israel und dem Westjordanland abzulegen, denn die Gesellschaft möchte die Berichte über die eigenen moralischen Makel nicht hören. Als „Linker“ sind jene verschrien, die an der Besatzung zweifeln. Und so kommt es, dass der Konflikt nur dann die israelische Öffentlichkeit berührt, wenn perspektivlose und ideologisch vereinnahmte Palästinenser an Bushaltestellen in wartende Menschen rasen oder mit Messern um sich stechen. Die israelische Politik, die mit dem Bau von Siedlungen bestraft und durch die Aufrechterhaltung der Besatzung jede Chance auf Frieden zubetoniert, erfährt in diesen Tag noch mehr Zuspruch. Mehr als eine halbe Million oftmals extremistischer Siedler haben sich im Westjordanland niedergelassen. Dort ist in den letzten Jahren mit ihnen nicht nur eine entscheidende politische Größe herangewachsen, sondern auch eine radikalisierte Jugend, die durch benachbarte palästinensische Dörfer zieht, um Autos anzuzünden und Moscheen zu beschmieren. Und während diese Jugendlichen im besten Fall vor ein ordentliches Gericht gestellt werden, steht jeder palästinensische Steinewerfer unter israelischer Militärgerichtsbarkeit. Wie moralisch überlegen kann eine Gesellschaft sein, die es toleriert, dass in ihren Gefängnissen minderjährige Palästinenser auf unbestimmte Zeit festgehalten werden? Welche Werte vertritt ein Staat, in dessen Machtbereich ein 15jähriger Angreifer auf offener Straße verblutet, während dutzende Polizisten um ihn stehen und ein Siedler Nahaufnahmen mit seinem Handy macht, laut rufend „Stirb, Du Hurensohn“? Man könnte sich fragen, ob die israelische Öffentlichkeit tatsächlich erkennt, in welchem moralischen Dilemma sie sich hier befindet. 
Extremisten und Terroristen gibt es auf beiden Seiten, das ist nicht Gegenstand der Diskussion. Der palästinensische Terror entsteht jedoch auf dem Boden der Perspektivlosigkeit, in einem von Zäunen und Mauern und Checkpoints durchzogenen Land. Der israelische Terror auf der anderen Seite wähnt große Teile der eigenen Politik hinter sich. Er entsteht in einem Staat, der seit Jahrzehnten in jedem Konflikt Sieger geblieben ist und seit einer halben Ewigkeit eine Besatzung aufrecht erhält, durch die sowohl die eine als auch die andere Seite immer weiter abstumpft und irgendwann jedes Gefühl für ein menschliches Miteinander verlieren wird. Ein anderer Bekannter schrieb mit auf Facebook, die Atmosphäre in Israel sei dermaßen vergiftet, dass er noch nie so ernstlich über Auswanderung nachgedacht habe wie heute. Und wenn die ersten Querdenker aus einem Staat auszuwandern beginnen, der sich noch immer die "einzige Demokratie im Nahen Osten" nennt, dann kann dieser Staat nicht sehr open-minded sein.


Montag, 19. Oktober 2015

Götterdämmerung oder Faschisten im Schafspelz

Wenn im Januar wieder das Unwort des Jahres 2015 gekürt werden soll, wird man aus einer schier unübersehbaren Masse von Vokabeln eine wählen, die das aktuelle Bild unserer Gesellschaft in den Medien und im allgemeinen Sprachgebrauch auf ihre Art besonders charakterisiert hat. Wird es der „Gutmensch“ sein oder doch eher der „Asylkritiker“? Auch die „Überfremdung“ dürfte hoch im Kurs stehen. Mein aktueller Favorit stammt aber von einem besorgten Bürger namens Engelbert M., der einstmals Bürgermeister von Bautzen werden wollte und die abendlichen Spaziergänge der Rentner, Lehrer und Doktoren aus der „Mitte des Volkes“ seit ihren Anfängen im letzten Jahr treu begleitet. Kürzlich bezeichnete er die Merkel-Gabriel-Konstruktion, die ein dumpfbackiger Patrioten auf einer Demonstration vor sich hergetragen hatte und wegen der nun die Staatsanwaltschaft eingeschaltet wurde, leicht humoristisch – und vor allem beschwichtigend – als „Ziergalgen“.  
Der Untergang des Abendlandes hat viele Gesichter. Ein besonders hässliches, aber zugleich ungemein bürgerliches ist das von Pegida. Welches könnte also Unwort des Jahres werden wenn nicht das unschuldige Wörtchen „Ziergalgen“, dessen Silhouette über dem vom Sonnenuntergang eingerahmten Abendspaziergang der tapferen Patrioten thront, die grölend und schimpfend schon seit einem Jahr unsere christlichen Werte zu verteidigen vorgeben – denn Pegida feiert heute Geburtstag, und nach nur einem Jahr müssen wir bekennen, dass die Faschisten im bürgerlichen Schafspelz ihre Sicht der Dinge schon lange salonfähig gemacht haben – und dass sie überdies noch zu ganz Anderem fähig sind. Die Errungenschaften der selbsternannten Volksbewegung sind bemerkenswert: Wurden doch im ganzen Jahr 2014 „nur“ 198 Straftaten gegen Asylbewerberunterkünfte registriert, gab es bis Mitte Oktober 2015 schon 522 Übergriffe. Mit dem Messerangriff auf die inzwischen zur Oberbürgermeisterin von Köln gewählten parteilosen Henriette Reker gab es nun auch einen ersten Gewaltakt gegen eine Politikerin auf höherem Niveau. Zu verdanken ist dies dem Klima, das von Pegida und ihrer parlamentarischen Verbündeten, der „Alternative für Deutschland“ (AfD), geschaffen wurde. Kein Nazi braucht sich mehr hinter dem Stammtisch und seiner zünftigen Bierfahne zu verstecken, im Jahr 2015 sagt man frei raus was man denkt. Und den Rücken bekommt man gestärkt von den neuen Führern, den Bachmännern und Höckers, die vor ihrem versammelten Volk wirre Reden schwingen, von der Islamisierung des Abendlandes phantasieren und Asylbewerberheime als Luxussanatorien beschreiben. Diese Menschen beginnen, keinen Hehl mehr daraus zu machen was sie denken und was sie wollen. Der Journalist Klaus Hillenbrand hat in seinem Kommentar für die taz eine ganz entscheidende Feststellung getroffen: „Wer glaubt, ein paar weniger Asylsuchende in Pirna, Heidenau oder Dresden würden deeskalierend wirken, verkennt, dass es den Fremdenfeinden nicht um Kompromisse geht. Weder wollen diese einen Kompromiss noch sind deren Ansichten kompromissfähig. Sie wollen den autoritären Staat.“ Traurigerweise können wir die, die von sich behaupten aus der „Mitte des Volkes“ zu kommen, nicht einfach in die rechte Ecke verbannen. Vielleicht wäre es darum besser einzugestehen, dass mit Pegida tatsächlich Menschen aus allen Schichten durch die Straßen Dresdens marschieren. Vielleicht sollten wir nüchtern feststellen, dass auch 1933 nicht nur die Verzweifelten, Arbeitslosen und sozial Schwachen der NSDAP und Adolf Hitler mit 43,9% der Stimmen zur Macht verholfen haben, sondern – Menschen aus dem Bürgertum.
Wie wirken wir dieser bedrohlichen Entwicklung entgegen? Wenn unsere Kinder, Enkel oder Urenkel in 30 Jahren mit dem Ruf „Wir sind das Volk!“ nur noch das Jahr 2015 verbinden können, dann haben wir alle jämmerlich versagt. Lassen wir das nicht zu. Eine wehrhafte, lebendige und dynamische demokratische Gesellschaft muss dem aufkeimenden Fremdenhass und der rechten Systemfeindschaft alles entgegensetzen was sie aufzubieten hat: Hetzer wie Björn Höcke, der zuletzt bei Günther Jauch seine Hitparade der unbelegten Behauptungen und Gerüchte zum Besten geben durfte, können leicht durch Argumente und Fakten widerlegt werden, doch das „Volk“ lässt sich nur durch eine Instanz belehren: durch das Volk selbst. Wir müssen denen, die es einfach nicht besser wissen, die andere Wirklichkeit vor Augen führen und sie aus ihrer starren Weltsicht befreien. Das ist unsere Aufgabe, die sich am sinnvollsten nicht durch die Medien (a.k.a. „Lügenpresse“), sondern vielleicht besser von Mann zu Mann oder von Frau zu Frau bewältigen lässt. Doch es wird immer einen harten Kern der Unbelehrbaren geben, mit denen es nicht lohnt in Dialog zu treten. Ab einem gewissen Grad hilft gegen „besorgte Bürger“ deshalb nur noch eins: In der Gegendemo stehen und die Faschisten niederbrüllen, Aufmärsche blockieren und die Abendspaziergänger am Ende des Tages frustriert nach Hause schicken.

Mittwoch, 23. September 2015

Momentaufnahme dreiundzwanzigster September

Wir leben schon in turbulenten Zeiten. Die Amerikaner wollen ein paar nagelneue Atomwaffen in Rheinland-Pfalz stationieren. Wieso eigentlich? Der Flüchtlingsstrom hält derweil an. Doch statt über eine Lösung der Syrienkrise nachzudenken, lässt die NATO ihre Eurofighter voll bewaffnet in Estland rumfliegen und wartet auf die Russen. Die aber werden nicht kommen, denn Putin ist gerade damit beschäftigt, seine Soldaten in Damaskus um Assad herum zu positionieren – leider zielen sie in die falsche Richtung. Währenddessen holt Innenminister de Maizière pensionierte Beamte zurück, um Asylanträge zu bearbeiten, obwohl bestimmt irgendwo in Deutschland noch genügend Beamten aufzutreiben wären, die zu wenig zu tun haben. Drittklassige Lösungen für ein Problem, das sowieso keine Priorität hat. Der Innenminister hält es für wichtiger, am europäischen Asylrecht rumzudoktern und der Pöbel hat endlich die Möglichkeit, die Angst vor unsicheren Straßen, fiktiver Islamisierung und Flüchtlingen in einen Topf zu werfen. Zur selben Zeit bedrohen Pegida-Anhänger Kinder in Dresden („Euch kriegen wir auch noch!“), weil sie die Teilnehmer des „Schultheaters der Länder“ für eine Gegendemonstration hielten. Demonstriert wird tatsächlich, nämlich wo zurzeit der Konflikt zwischen Kurden und Türken eskaliert. Türkisch-deutsche Online-Zeitungen, die ich eigentlich gerne lese, schießen gegen die (zu Recht oder zu Unrecht noch verbotene) PKK und für Erdoğan, kurdische Online-Quellen versuchen unterdessen nachzuweisen, dass Osama Abdul Mohsen („der Flüchtling, dem ein Bein gestellt wurde“) in Wirklichkeit ein Radikaler der al-Nusra-Front ist. Es geht drunter und drüber. Und immer mehr Menschen freunden sich wieder mit den simplen Weltsichten und einfachen Lösungen an, die wir hierzulande in einem jahrhundertelangen, äußerst schmerzhaften Prozess eigentlich zum großen Teil überwunden haben sollten. Aber ist es die Aufregung wert? Wahrscheinlich geht das Abendland sowieso unter – jetzt wo auch VW dem Untergang näher ist denn je…

Sonntag, 20. September 2015

Lech Wałęsa und die Flüchtlinge

Während in Europa die große Schlacht um die Quote tobt, traf eine Gruppe israelischer Journalisten kürzlich den großen Lech Wałęsa. Der Friedensnobelpreisträger und ehemalige Staatspräsident Polens organisierte den politischen Wandel seines Landes nach dem Zusammenbruch des Kommunismus, er verkörpert mit seiner Gewerkschaft Solidarność den demokratischen Aufbruch des Ostens. Was er aber über die aktuelle Situation Europas sagt, könnte die Zuhörenden wahrhaft ins Grübeln bringen.
Wałęsa äußert Verständnis für die ablehnende Haltung seiner Mitbürger gegen syrische Flüchtlinge: „Ich verstehe, weshalb Polen und Europa ihren Zustrom fürchten. Sie kommen von Orten, an denen Menschen enthauptet werden. Wir machen uns Sorgen, dass dasselbe auch uns zustoßen wird“, sagte er der Jerusalem Post. Der ehemalige Präsident hat Angst davor, dass Muslime anfangen könnten, Europäer zu köpfen. Genau davor hatte uns schon Pegida gewarnt, wenn wir uns an die aufreibenden Tage des letzten Dezember und Januar erinnern. Wałęsa hat eine sehr plausible Erklärung: „Wir in Polen haben kleine Wohnungen, niedrige Löhne und magere Renten. Als ich die Flüchtlinge im Fernsehen sah habe ich bemerkt, dass sie besser aussehen als wir. Sie sind gut genährt, gut angezogen und vielleicht sind sie sogar reicher als wir.“

(Reuters, 2015)

Was Wałęsa da sagt, erinnert ziemlich arg an die Facebook-Propaganda der „besorgten Bürger“, die sich regelmäßig auch davon entsetzt zeigen, dass syrische Flüchtlinge durchaus mit Smartphones umzugehen wissen. Doch natürlich zeigt er sich an manchen Stellen auch verständnisvoll für die Flüchtlinge, vor allem in Hinblick auf die Geschichte seines eigenen Volkes: „Ich verstehe sie. Wir Polen waren auch Immigranten und Flüchtlinge während des Kommunismus.“ Aber irgendwie war das dann doch etwas ganz anderes: „Wo immer wir hinkamen, haben wir die örtliche Kultur und die Gesetze geachtet. Diese Einwanderer sind anders. Sogar in der zweiten oder dritten Generation – schauen Sie sich z.B. Frankreich an – wenden sich jene, die gute Bildung genossen und Geld verdient haben, dennoch gegen ihre Gastländer.“
Mit Aussagen wie diesen dürfte Wałęsa den meisten Pegida-Sympathisanten – und eigentlich dem ganzen Osten Europas – aus dem Herzen sprechen. Dabei heroisiert er den osteuropäischen Freiheitskampf auch ein wenig: „Das kommunistische Regime hatte mir angeboten Polen zu verlassen und ein Flüchtling zu werden. Ich habe abgelehnt. Ich bin geblieben um für das zu kämpfen, an was ich geglaubt habe.“ Es ist immer richtig und ehrenhaft, für seine Überzeugungen einzustehen. Doch trotzdem dürfte es schwierig werden, das Polen der 1980er Jahre mit Syrien 2015 zu vergleichen. In Polen gab es – ebenso wie in der DDR – keinen Bürgerkrieg, Aleppo und Damaskus lassen sich heute eher mit dem Warschau von 1945 vergleichen als mit jenem des Jahres 1989. Außerdem dürfte es den meisten Syrern schwer fallen, in diesem unübersichtlichen Bürgerkrieg, in der Realität von heute, auf der richtigen Seite wiederzufinden. In Deutschland wagen es nur die Pegida-Spaziergänger und die NPD, die Frage zu stellen, wieso diese ganzen jungen Männer nicht in ihrer Heimat geblieben sind und kämpfen. Doch anders als der Gewerkschafter Wałęsa wissen die jungen Syrer eben nicht, in welcher Armee oder Miliz sie für ein demokratisches Syrien kämpfen sollen. Während die Welt größtenteils nur zusieht, geraten diese Menschen – egal ob sie vor dem Krieg an der Universität in Damaskus studierten oder in einem kleinen Laden auf dem Basar von Aleppo arbeiteten – zwischen die Fronten. Währenddessen strömen Marokkaner, Saudis und europäische Islamisten zum IS, versorgen Quellen aus der Türkei die Terroristen mit Waffen. Währenddessen unterstützt der Iran die Hizbollah und Deutschland die Peschmerga. Die Russen haben ihre Soldaten rund um Assad platziert, zielen aber in die falsche Richtung, und die Amerikaner sind nach ihrem Irak-Debakel meilenweit davon entfernt, noch aktiver als bisher in dieses Chaos einzugreifen. Erdoğan bombardiert PKK und Peschmerga gleichermaßen, nur will das keiner so wirklich laut sagen. Israel beobachtet, der Libanon schweigt und nimmt Millionen Flüchtlinge auf, die ganze Welt aber schaut im besten Fall zu – im schlechtesten hat sie ihre Finger mit im Spiel. Nein, Herr Wałęsa, diese Menschen könnten nicht für ihre Überzeugungen kämpfen, selbst wenn sie es wollten. Und deswegen kommen sie zu uns.


Das weiß der polnische Politiker selbst. „Es ist wahr, dass ein Teil der neuen Flüchtlinge und Immigranten flieht, weil sie um ihr Leben fürchten.“ Als Nachsatz fügt er natürlich hinzu: „Aber viele wandern auch ein um ihren Lebensstandard und ihre Lebensqualität zu verbessern.“ Okay, aber was machen eigentlich die Millionen Polen, die seit über 100 Jahren in die USA (v.a. 1870-1914), nach Deutschland (ab 1880) und nach Großbritannien (seit 2004) ausgewandert sind? Waren diese Menschen etwa nicht auf der Suche nach einer Verbesserung ihrer Lebensqualität? Und haben diese Menschen etwa nicht auch ihr Brauchtum gepflegt? Polnische Hochzeiten in Chicago waren vor einigen Jahrzehnten auch noch laut und haben den ganzen Tag in Anspruch genommen, Polen haben auch Kirchen gebaut, wenn sie wo hinkamen wo es für sie noch keine Kirche gab. Auch die Polen haben Amerika mit einem ethnischen Volksfest bereichert und so manche Straßenzeile um einen oder zwei oder auch zehn Metzgereien. Auch die Polen haben ihre Identität nicht bei der Einreise abgegeben.
Doch Wałęsa erklärt die Welt simpel und einfach, in wenigen Worten. „Es ist ein Problem. Wenn Europa seine Tore öffnet, werden bald Millionen durchkommen und anfangen, unter uns ihre eigenen Bräuche zu praktizieren, inklusive Enthauptungen.“ Was hat er nur mit diesen Enthauptungen? Sind die nicht eigentlich auch ein Grund, weshalb so viele Syrer fliehen? Leider scheint der polnische Altpräsident nicht zu erkennen, dass es für die Probleme unserer Zeit keine einfachen Lösungen, keine einfachen Antworten gibt. Es gibt nicht nur schwarz oder weiß, nicht gut oder böse. Und es gibt nicht nur das christliche Abendland und die unzivilisierten Muslime. Es gibt nur eine einzige, riesige Grauzone, aus der man irgendwie seinen Weg heraus bahnen muss. Und Abschottung ist der Weg für all die, die gerne eine einfache Welt hätten, in der man nicht mehr kämpfen, sondern nur noch am lautesten schreien muss.

Montag, 29. Juni 2015

Selbstverständnis & Selbstkritik - Deutschland und die EU im Spiegel der Ukraine-Krise

Ich möchte die Demokratie gegen nichts auf der Welt eintauschen. Doch zu einem gesunden Selbstverständnis gehört auch Selbstkritik, besonders in Tagen des Schwarz-und-Weiß-Denkens. Seit dem Beginn der Ukraine-Krise sind die Positionen westlich und östlich der Front klar aufgeteilt, doch macht uns dies nicht alle gleich. Und es täuscht nur kurzfristig über die Probleme hinweg, die wir in Zukunft noch bekommen werden oder schon längst haben. Es besteht Nachholbedarf, an allen Ecken und Enden – und nicht nur in Deutschland. Wenn es um die Aufarbeitung der eigenen Geschichte geht oder um den Umgang mit Menschen ausländischer Herkunft. Dass Lettland noch immer Gedenkmärsche für seine Kriegsteilnehmer aus den Reihen der Waffen-SS abhält, an denen im März 2015 noch 1.500 Männer teilnahmen, kann man als alternative Interpretation europäischer Geschichte deuten. Doch dass der ungarische Präsident auf Wahlkampfplakaten fremdenfeindliche Sprüche gegen Flüchtlinge klopfte, ist ein akutes Problem. Natürlich, die Plakat-Botschaften waren in ungarischer Sprache abgefasst und richteten sich an das ungarische Wahlvolk, doch Fremdenhass (und wahrscheinlich auch schlichtweg Angst vor der Einwanderung) ist ein Problem, dem in vielen Ländern mit Nachsicht und allzu großem Verständnis begegnet wird. Doch abseits der Flüchtlingsproblematik gibt es andere beunruhigende Tendenzen, die sich vor allem im Kontext des Konflikts mit Russland manifestieren. In Litauen wird das Schulfach „patriotische Erziehung“ eingeführt, in Polen formiert sich angesichts der russischen Bedrohung die Federacja Organizacji Proobronnych (FOP, Föderation der Pro-Verteidigungsorganisationen). Dieser Verband soll Freiwillige bündeln und bis in drei Jahren mit 100.000 Mitgliedern in jedem Kreis präsent sein. Eine Aufgabe der Organisation – neben der Verteidigung gegen „den Russen“ – ist die Erziehung der Jugend zum Patriotismus. Ähnliche Bürgerwehren bilden sich auch in den baltischen Staaten. Hilft Vaterlandsliebe gegen Faschismus? Eine Legende, an die noch allzu viele glauben mögen.

Ich liebe die Demokratie. Aber ich zweifle so langsam an unserer. Deutschland profitiert an einem Konflikt, zu dessen Entschärfung auch von europäischer Seite nichts beigetragen wird: Polen hat Ende 2013 einen Kaufvertrag zur Lieferung von 119 deutschen Leopard-Panzern, 18 Bergepanzern und 200 Militär-LKWs unterschrieben. Ende Mai hat Rheinmetall bekannt gegeben, mit einem polnischen Joint Venture einen neuen Radpanzer zu bauen. Die polnische Regierung will 200 Stück kaufen, Umsatz: 300 Millionen Euro. Litauen wird demnächst mit deutschen Panzerhaubitzen und Feuerleitsystemen ausgestattet. Natürlich ist Deutschland nicht der einzige Lieferant. Doch bemerkenswert ist allein schon die Tatsache, dass man viel mehr Mühe in die militärische Hochrüstung zu legen scheint als in diplomatische Friedensbemühungen. Während der Diplomatie die Ausdauer schwindet, beginnt die Wirtschaft zu frohlocken. Ich will Pazifismus...

Ich glaube an die Demokratie und bin der Meinung, dass man ein paar Macken in unserem System durchaus kurieren kann. Aber vielleicht sollten wir erst einmal offen bekennen, dass auch wir einen Propaganda-Apparat betreiben, bevor wir die Medien unserer Kontrahenten verurteilen. Die Deutsche Welle hat seit Mitte Mai ein Abkommen mit den baltischen Staaten und liefert russischsprachige Fernsehbeiträge. Ein Zitat des DW-Intendanten Peter Limbourg: „Mit unseren Programmlieferungen in russischer Sprache tragen wir dazu bei, dass die Menschen Informationen russischer Medien besser einordnen können.“ – Was ist das, wenn nicht Propaganda? Von Deutschland an Russen. Das gleiche macht Russland mit seinem Russia-Today-Büro in Berlin. Und das finde ich nicht gut.
Derweil wird unterbunden, dass Russland seine Minderheiten im Baltikum medientechnisch versorgt. Doch wieso ist es überhaupt nötig, dass sich der russische Staat um Bürger in europäischen Ländern kümmern muss? Vielleicht weil diese gar keine Bürger sind: Nach der Unabhängigkeit der baltischen Staaten bekam die russische Minderheit nur unzureichend die Möglichkeit, die jeweilige neue Staatsbürgerschaft zu erhalten. Nach dem Ende der Sowjetunion wurden diese (meist russischsprachigen) Einwohner staatenlos. Heute leben 91.000 Staatenlose in Estland (laut Amnesty International), in Lettland sind es 300.000 und damit knapp 15 % der Bevölkerung. Wenn wir es als falsch empfinden, dass sich Russland um Russen kümmert, wie stehen wir dann dazu, dass sich das deutsche Innenministerium um deutsche Minderheiten im Ausland kümmert? Eine absurde Frage, oder nicht?
Aufgrund der alltäglichen Diskriminierung in Form von unzureichendem Zugang zu staatlichen Leistungen, Benachteiligung auf dem Arbeitsmarkt und vor allem dem fehlenden Wahlrecht ist die russische Minderheit in diesen Ländern Putin gegenüber zum großen Teil freundlich eingestellt. Doch das können wir nicht verstehen: „Im Nato-Land Estland […] sehen nur rund 30 Prozent der russischsprachigen Bevölkerung das Verteidigungsbündnis [NATO] positiv – obwohl Nato-Jets den Luftraum schützen und inzwischen ständig US-Truppen im Land sind“, schreibt Spiegel Online und wundert sich. Seit April 2014 sind in Lettland, Litauen und Estland jeweils 150 US-Soldaten stationiert, von denen einige an der Militärparade zum estnischen Unabhängigkeitstag teilnahmen – aus mainstreameuropäischer Sicht kann das nur positiv sein.

Wenn wir kein Verständnis für Russland aufbringen können und wollen, dann sollten wir wenigstens einmal ein wenig Unverständnis gegen unsere eigene Politik und ihre unverhohlene Falschheit offenbar werden lassen. Und Empörung. Während unsere Währungsunion am Euro und der Griechenland-Politik scheitert und unsere Werte vor Italien und Spanien zusammen mit 25.000 Flüchtlingen ertrinken, bringen wir es immer noch nicht übers Herz, die erste faulige Tomate zu werfen, die ein erster Anstoß zur Heilung des Systems sein könnte.