Mittwoch, 19. Dezember 2012

Ausblick ohne Aussicht (Israel-Palästina-Analyse Dezember 2012)


Am 29. November 2012 wurde Palästina der Beobachterstatus der Vereinten Nationen gegeben. Er gilt als Vorstufe zur Vollmitgliedschaft. Im Zuge der Aufwertung der palästinensischen Delegation sprach die UNO erstmals von einem „Staat“. Die USA bildeten die Basis einer gewichtigen, aber äußerst kleinen Opposition gegen die Entscheidung der Vereinten Nationen. Europa zeigte sich gespalten, auch die Deutschen sorgten mit ihrer Enthaltung für eine Überraschung. In Ramallah, Hebron und Gaza gab es Freudentänze, Hupkonzerte und Gewehrschüsse zur Feier des Tages. Die unmittelbare Reaktion auf die Entscheidung der Vereinten Nationen kam promt aus Jerusalem: Der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu verkündete den Bau neuer Wohnsiedlungen auf umstrittenem Gebiet – dieses Mal an Orten, die für eine Zweistaatenlösung zu einer unangenehmen Hürde werden könnten.
In großen Schritten geht Palästinenserpräsident Mahmud Abbas auf die Unabhängigkeit Palästinas zu. Doch was wird sich in den kommenden Monaten verändern? In welche Richtung gegen die Ereignisse der letzten Tage, Wochen und Monate? Die wichtigste Frage von allen wird jedoch sein: Gibt es eine neue Chance für einen nachhaltigen Friedensprozess?
Das Jahr 2012 neigt sich dem Ende zu und im Streit um das Heilige Land ergeben sich immer neue Situationen. Die Lage spitzt sich zu, auch wenn es für die einen bergauf zu gehen scheint. Während die Palästinenser neues Selbstbewusstsein schöpfen, bereitet sich die israelische Politik auf einen Isolationskurs vor. Der Wahlkampf steht vor der Tür. Die letzte Konfrontation mit der Hamas in Gaza hat den rechten Parteien wieder Zulauf verschafft. – Doch nicht nur auf der israelischen Seite scheinen sich die Positionen zu radikalisieren. Die jüngsten Erfolge der palästinensischen Vertretung vor der UNO bekräftigen auch die Radikalen in den Reihen der Palästinenser. Der Wille, ganz Palästina von den „zionistischen Besatzern“ zu befreien, ist stärker denn je.

Auf israelischer Seite hat sich eine Personaländerung angekündigt: Außenminister Avigdor Liberman, der für seine äußerst kompromisslose Haltung bekannt ist, reichte bei seinem Chef das Rücktrittsgesuch ein. Ein Ermittlungsverfahren, das gegen ihn seit 16 Jahren läuft, hat den aus Moldawien stammenden Politiker der Likud-Partei zum Rücktritt bewegt. Seitdem hat der ohnehin schon schwer beschäftigte Netanjahu dieses Amt geschäftsführend übernommen. Netanjahu treibt die Genehmigung neuer Wohneinheiten voran. Offiziell kann wohl niemand nachweisen, dass dieser Schritt etwas mit den jüngsten Ereignissen in New York zu tun hat, doch es scheint offensichtlich zu sein, dass der Premierminister zeigen will, wer in Jerusalem und Umgebung das Sagen hat. Schon vor dem Antrag des Palästinenserpräsidenten vor der UNO waren über tausend Wohneinheiten in Pisgat Ze’ev und Ramot genehmigt worden. Dies war wohl der erste Warnschuss. Nachdem Abbas vor der UNO-Vollversammlung Erfolg hatte, will Netanjahu ganze 6600 neue Wohnungen entstehen lassen, etwa 1500 davon in Ramat Schlomo. Es ist vor allem der Nordosten Jerusalems, der hier von besonderem Interesse ist, denn dort ließe sich mit einigen neuen Siedlungen der Weg zwischen Ramallah und Hebron in den Palästinensergebieten abschneiden. In Panik verfallende Pessimisten sehen darin einen finalen Schritt der israelischen Regierung, eine Zweistaatenlösung vollends unmöglich zu machen, indem Fakten geschaffen würden in Form neuer israelischer Wohngebiete. Angesichts der politischen Entwicklungen könnten sie nicht ganz Unrecht haben.
Unterdessen bereitet sich die israelische Öffentlichkeit auf die Wahlen vor, die am 22. Januar 2013 stattfinden sollen. Netanjahu scheint auch hier wieder der sichere Gewinner zu sein. Hunderte von Raketen, die in den letzten Monaten und Wochen im Zuge der Gaza-Krise auf israelische Dörfer und Städte gefallen waren, haben weite Teile der Bevölkerung wieder an die Wahrung der Sicherheit für alle Staatsbürger erinnert, die von den rechten Parteien großgeschrieben wird. Obwohl bei weitem nicht alle Israelis hinter ihrem Premierminister stehen, bietet sich auf der anderen Seite keine lohnende Alternative. Die linken Parteien sind schlecht organisiert und das Lager, das den Friedensprozess vorantreiben will, hat kaum eine Chance, bei den Wahlen zu gewinnen oder auch nur an einer neuen Regierung beteiligt zu werden.
Was für Israel in Zukunft noch von Bedeutung sein könnte ist die mittlerweile eher kritische und zuvor nicht gekannte Haltung, die sich in der deutschen Politik breit macht: Nicht nur Sigmar Gabriel (SPD), der im März bei seinem Hebron-Besuch von einem „Apartheid-Regime“ sprach, verschafft sich Gehör. Auch die Kanzlerin tat sich schwer damit, ihrem israelischen Amtskollegen bei seinem letztem Besuch kurz nach der Bekanntmachung, es werde (tausende) neue Wohnungen auf umstrittenem Gebiet geben, alles durchgehen zu lassen. In der Frage der Siedlungen könne sie nur sagen, „dass wir uns einig sind, dass wir uns nicht einig sind“.
Dass Kritik selbst vonseiten der deutschen Regierung laut wird, müsste für Netanjahu ein eindeutiges Zeichen sein: Der derzeitige Kurs könnte der falsche sein und in die internationale Isolation führen. Die Zeiten, in denen man noch Mitgefühl und Solidarität verspürte für ein bedrängtes und angreifbares Israel, scheinen vorbei zu sein – und das schon seit dem Jahre 1967. Zu lange schon gehört Israel selbst zu den Besatzern. Und zu groß sind auch die die Veränderungen, die sich dieser Tage vollziehen: Obwohl der Arabische Frühling – zwei Jahre nach seinem Ausbruch – zwar nur an den wenigsten Orten wirklich positive Veränderungen in Form von sicheren, demokratischen Systemen hervorgebracht hat, so zeugt er doch tagtäglich von der Tatsache, dass wir im 21. Jahrhundert angekommen sind. Die Diskussionen auf den Straßen der arabischen Welt und die schleppende, aber kreativ gestaltete Veränderung im Nahen Osten zeigen Israel, dass es nicht mehr nur eine einfarbige Masse von Feinden um sich hat. Vielmehr bilden sich hier neue Parlamente, neue Regierungen, neue Kräfte, die man nicht durch Verträge dazu verpflichten kann, vom Schicksal der palästinensischen Nachbarn unbeeindruckt weiter den Unbeteiligten zu spielen. In unserem Jahrtausend wird es immer unmöglicher, ein Gebiet mit militärischer Macht zu besetzen und seine Bewohner zu Rechtlosen zu machen, die Militärgerichten unterstellt sind. Die Zeiten, in der man spätpubertierende Jugendliche in Uniformen stecken und als Besatzer in einen rechtsfreien Raum entsenden kann, ohne die Verantwortung für ihre Taten übernehmen zu müssen, könnten bald Geschichte sein. Ein vor der UNO aufgewertetes Palästina lässt sich so leicht nicht mehr zerspalten und in Zonen einteilen, während die Welt nur zuschaut.

Bei aller Einigkeit vor der Versammlung der Vereinten Nationen präsentiert Palästina jedoch nicht nur geografisch ein gespaltetes Territorium. Fatah und Hamas, die beiden entscheidenden Parteien, hatten vor über zweieinhalb Jahren den Versuch gewagt, sich einander näher zu kommen. Dieser Versuch war mehr oder weniger gescheitert. Noch immer unterscheiden sich die beiden Kräfte wie Tag und Nacht. Doch auch auf palästinensischer Seite haben sich die Töne geändert. Abbas hat sich mit seinem internationalen Erfolg neue Sympathiepunkte sichern können. Das Volk wagt ein neues Selbstbewusstsein und bereitet sich vor auf die Unabhängigkeit. Einige Extremisten, die im Zuge der Gaza-Krise großen Zulauf erhalten haben, bereiten sich indes auf einen anderen Sturm vor – nämlich den Sturm auf Jerusalem. So scheint es zumindest, verfolgt man die neusten Berichte aus Hebron, der Hamas-Hochburg im Westjordanland. Dort hatte die Autonomiebehörde kürzlich eine Kundgebung zum 25jährigen Jubiläum der radikalislamischen Organisation gebilligt. Tausende Menschen feierten die Märtyrer vergangener und die neuen Helden unserer Tage. Hier ist genau jenes Bild präsent, das die israelische Öffentlichkeit und auch die israelische Politik oft zu ihrem strengen Rechtskurs drängt: Landkarten Palästinas, auf denen Israel ausgelöscht ist, palästinensisches Gebiet vom Jordan bis zum Mittelmeer. Und die Demonstranten, die Zuschauer, die Kinder zeigen deutlich, dass sie keinen anderen Weg sehen als die Auslöschung des Feindes. Kompromissbereit zeigen sich hier die wenigsten.
Während Israel – auch unter Netanjahu – seinen Willen zur Zweistaatenlösung immer wieder beteuert und die Palästinensische Autonomiebehörde sich unter Palästinenserpräsident Mahmud Abbas immer wieder dazu zwingt, dies auch zu tun, gibt es auf Seiten der Hamas nur den klaren Kurs gen Jerusalem, ohne Abstriche. Israel hat keine Zukunft, die Juden sollen wieder dahin zurückgehen wo sie einst hergekommen sind, so lautet hier die über weite Teile der Bevölkerung akzeptierte Meinung. Einen Frieden mit Israel wird es nie geben. Das ist bei der Hamas offiziell.
Während die eine Veränderung in Richtung der Radikalisierung geht, kommen jedoch auch beschwichtigende Töne aus Palästina bzw. in diesem Fall – aus der Türkei: Palästinenserpräsident Abbas hat kürzlich die Äußerung des Hamas-Führers Chaled Maschal zum Staat Israel kritisiert. Die Hamas habe einer Zweistaatenlösung zugestimmt und müsse deshalb auch Israel anerkennen, sagte der Fatah-Chef am Ende seines zweitägigen Besuches in der Ankara vor Journalisten.

Die Hoffnung stirbt zuletzt, hat einmal ein bedauernswert naiver, aber optimistischer Volksmund gesagt. Vielleicht ist es auch in diesem Fall so. Festzustellen bleibt am Ende jedoch, dass auf beiden Seiten der Mauer zunächst ein Rechtsruck zu befürchten ist. Radikale Palästinenser werden durch internationale Unterstützung nicht kompromissbereiter. Dennoch: Die einzigen, die im Moment für eine Entschärfung sorgen könnten bzw. für ein in-die-Wege-Leiten eines neuen Friedensprozesses, sind die Politiker auf der israelischen Seite. Anstatt wie erst kürzlich auf die harte Tour zu setzen und weiter eine gemeinsame Gesprächsgrundlage mit sandfarbenen Mehrfamilienhäusern zu verbauen, müsste Netanjahu auf seine palästinensischen Rivalen zugehen, denn diese könnten bald mit ihm auf einer Augenhöhe sein. Vielleicht sollte er Abbas, der im Gegensatz zur Hamas das „kleinere Übel“ darstellen dürfte, schon vorzeitig auf seine Stufe stellen und sich somit seinen Wunschgesprächspartner in dessen Position sichern, denn mit der Hamas wird in nächster Zeit wohl kam zu reden sein.
Es bleibt abzuwarten, wie sich die israelische Wählerschaft im Januar bei den Parlamentswahlen entscheiden wird. Doch unabhängig davon sollte irgendwann jemand aufstehen und alle Beteiligten darauf hinweisen, dass eine Chance nach der nächsten ungenutzt vorbeizieht und jedes israelische und palästinensische Kind zum wiederholten Mal um die Perspektive auf ein Leben in Frieden mit seinen Nachbarn beraubt.

Donnerstag, 18. Oktober 2012

Wie man das große Geld macht. (Teil 1)

And now... something completely different! - Irgendwann beginnt doch jeder, nach der ultimativen Marktlücke zu suchen. Die meisten Menschen bleiben dabei erfolglos auf der Strecke. Bis jetzt bin ich noch einer dieser Leute. Und daran wird sich so schnell wohl nichts ändern.
Den ersten Schritt habe ich jedoch schon getan: Ich habe angefangen nachzudenken.

Wie macht man das große Geld?


Möglichkeit 1: Man kauft sich in einer Unterführung eine Pistole und überfällt eine Bank.
Nachteile: Man hat sein Leben lang Gewissensbisse und Alpträume, weil man unschuldigen Bankangestellten für den Rest ihres Lebens Alpträume beschert hat. Und man schafft es mit großer Wahrscheinlichkeit nicht, damit durchzukommen. Fazit: Man wird verknackt und steht am Ende mit einer (langen) Vorstrafe da, ohne Geld und ohne Ehre.

Möglichkeit 2: Man kauft sich ein Flugticket in die USA, geht dann in Wisconsin in einen Baumarkt, rutscht auf einer vorher säuberlich dort positionierten Tapetenrolle aus und verklagt den Laden dann auf Hunderttausende von Dollars.
Nachteile: Man muss in die USA fliegen. So viel Zeit habe ich nicht.

Möglichkeit 3: Man spielt Lotto.
Nachteile: Man ist irgendwann arm, denn zum gewinnen braucht man Glück. Und Glück ist ein rares Gut.

Möglichkeit 4: Ehrliche, harte Arbeit.
(Anmerkung: Diese Möglichkeit so weit wie möglich aufschieben!)

Möglichkeit 5: Die ultimative Marktlücke finden - wenn möglich noch in Form eines Produkts, das schon existiert und das man nur noch billig einkaufen muss, um es dann teu(r)er zu verkaufen...
Nachteile: Ja, finde da erstmal was...!


In Freiburg hat eine Betriebswirtschaftlerin angefangen, Regenschirmautomaten aufzustellen. Eine Idee aus Ostasien. Und angeblich sind die zumindest so gefragt, dass der Nachfüllangestellte jeden Tag los muss, nachfüllen...

Ich bin der Meinung, dass es noch zig Millionen Ideen gibt, die einfach nur in den Weiten des Weltraums herumschwirren und darauf warten, dass jemand auf sie kommt.
Es gibt viele Möglichkeiten, das große Geld zu machen. Allerdings sind die alle scheiße.

Es stellt sich jedoch die Frage, ob man das große Geld machen muss. In seinem Buch "Die 4-Stunden-Woche" schreibt Timothy Ferriss: "Die Menschen legen gar keinen Wert darauf, Millionär zu sein - sie wollen bloß Dinge erleben, von denen sie glauben, dass nur Millionäre sie erleben können." - Aha, dieser Gedanke ist es doch wert, weiter gedacht zu werden. Naja, ich werde das Buch vielleicht einmal zu Ende lesen. Vielleicht kommt mir zwischen Outsourcing und gutem Zeitmanagement à la Americana noch die passende Idee zur ultimativen Marktlücke.
Die Nacht ist noch lang.

Man könnte sich jedoch auch über sinnvollere Dinge Gedanken machen und dann über diese dann hier schreiben. Aber mal ehrlich: Wieder Politik? Lasst uns doch mal ein bisschen träumen... - Vielleicht folgt ja irgendwann Teil 2...

Freitag, 5. Oktober 2012

Rückblick September 2012: Meine Israel-Palästina-Exkursion

Gestern, am 4. Oktober, bin ich von meiner Tour durch Israel und Palästina wieder zurück ins Schwabenland gekommen. Hier hält ja mittlerweile der Herbst Einzug, wovon am Mittelmeer jedoch kaum etwas zu spüren war. Außer einigen spärlichen, fast schon erbärmlich kurzen Regenschauern und darauffolgender erbarmungslos drückender Hitze waren in Tel Aviv keine Anzeichen des Herbstes zu spüren gewesen. Meine letzten Tage habe ich deshalb größtenteils auf einer Dachterrasse im Schatten verbracht. Doch schon der Volksmund sagt: Schatten schützt vor Schwüle nicht. Deshalb war der körperlichen Transpiration kaum Einhalt zu gebieten. Während dieser letzten mehr oder weniger entspannten Tage in Tel Aviv habe ich mir also einige Dokumentationen auf Youtube angesehen, mich über deutsche Politik informiert, den ein oder anderen Blog-Eintrag geschrieben und regelmäßig meine Emails gecheckt - jede Stunde mindestens zweimal.
Wie man merkt, wurde mir gegen Ende dann doch die Zeit lang. Nach vier Wochen hat man das meiste von dem gesehen, das man sehen wollte, und verspürt in der Bauchgegend einen gewissen Hunger auf Schweinefleisch, auf einen guten schwäbischen Braten mit Spätzle und Soß'. 
Und für dieses Jahr war mein Soll wohl auch erfüllt:

Ich habe 10 interessante Tage mit drei Freunden aus Tübingen verbracht und Israel gesehen, von Jerusalem bis zum Toten Meer und dem See Genezareth. In Haifa haben wir billig übernachtet, in Tel Aviv habe ich mir einen Sonnenbrand geholt. Mit meinem ehemaligen Arbeitskollegen Chen habe ich ein wenig über Politik geplaudert, mit Dutzenden anderer Reisender saß ich im Hostel und habe beim Pub Quiz jämmerlich versagt. Mit einer Freundin aus Tübingen habe ich Hebron gesehen, zusammen mit anderen Leuten sind wir nach Jenin gefahren, in die ehemalige Hochburg des palästinensischen Widerstandes (oder des Terrorismus).

Eigentlich habe ich jetzt alles gesehen. 
Indische Pilger, die in der Grabeskirche mit ihren iPads (!) Fotos schießen. 
Orthodoxe Juden, die sich für die Feiertage mit Zitrusfrüchten eingedeckt haben. 
Hunderte Soldaten mit Maschinengewehren.
Ich habe mich mit vielen Menschen unterhalten können. Besonders interessante 20 Minuten waren es mit einem gewissen Moris Davidsohn, einem Taxifahrer, der mich nach Tel Aviv gebracht hat. Er hat mir seine ganze Lebensgeschichte erzählt und auch darüber hinaus. Regelmäßig sieht er den History Channel. In Rumänien geboren, kam er 1970 nach Israel, wo seine erste Verständigungssprache Deutsch war. Wo ich denn 1970 gewesen sei, hat er mich gefragt. Da war ich noch 20 Jahre davon entfernt, geboren zu werden. Er bemerkt: "Da warst Du nicht mehr als ein Zwinkern im Auge Deines Vaters, wie man hier sagt." Ich antworte: "Mein Vater war damals zwei Jahre alt..." - Auch mit Taxifahrern kann man sich über dies und das unterhalten, wenn man vorher den Preis ausgemacht hat.

Eigentlich habe ich auch alles gemacht, dieses Mal.
Ich habe mit einigen anderen Leuten an einem späten Nachmittag die Mülltonnen Tel Avivs durchsucht, um ein Pappschild zu finden, auf das man "J-lem" schreiben kann. Am nächsten Tag war ja Feiertag, und irgendwie wollte ich nach Jerusalem kommen. Manchmal bleibt das Trampen der letzte Ausweg aus der Metropole. 
Man tut so einiges, wenn man im Urlaub ist. 
Man wirft als Insider den ein oder anderen Fun Fact ein, wenn man mit einer Gruppe anderer Leute auf den Weg macht, den Ölberg zu erwandern. 
Man zerstört bisweilen auch Laptops und hofft hernach, dass die Versicherung zahlt. 
Man verliert auch mal sein Handyladekabel. 
Man zeigt aber auch Theologiestudenten ganz spontan die Grabeskirche und erklärt ein paar grundsätzliche Dinge. Was es mit diesem und jenem Felsen auf sich hat. 
Man lädt auch mal jemanden in ein stilvolles Restaurant ein. 
Und ganz am Ende hofft man, bei der Ausreise ordentlich befragt zu werden.

Die Ausreise... beim Gepäckcheck fragte man mich, wo ich denn so war. "Jerusalem, Totes Meer, See Genezareth", sage ich. Standard eben. Ob ich auch in der Westbank war, fragt die mürrische Dame. Ich antworte: "Ja." - "Aha. Und wo genau?" - Ich lächle in Gedanken schon. "Naja, Ramallah, Hebron, Jenin..." - Sie entdeckt auch das Neue Testament auf Arabisch, das ich aus der Erlöserkirche in Jerusalem mitgenommen habe. Sehr verdächtig muss das sein, denke ich mir.
Danach begleitet mich ein Herr zum Check-In. Ein geschlossener Schalter wird geöffnet, der Herr steht neben mir, bis ich mein Ticket habe. Yes, denke ich. Endlich darf ich mal Fragen beantworten. Endlich darf ich in belanglosen Nebensätzen dem System meine Meinung geigen. - Doch was passiert? Ich bekomme mein Ticket, der Beamte neben mir macht auf dem Absatz kehrt und verschwindet.
Ich schaffe es einfach nicht, verdächtig zu wirken. Weder die Olivenseife aus Nablus, die furchtbar stinkt und die auf dem Röntgenschirm aussehen muss wie Plastiksprengstoff, noch das arabische Schriftgut, das ich dabei habe, führen zu einem Verdacht, der eine längere Befragung nach sich gezogen hätte.
Die Welt ist wohl noch nicht davon überzeugt, dass ich es eines Tages sein werde, der die Weltherrschaft an sich reißt. Daran müssen wir noch arbeiten, lieber Thorschten.

Wie dem auch sei, es waren vier gute Wochen. Interessant, auf die ein oder andere Weise inspirierend und auch wieder einmal sehr horizonterweiternd. Einzig an einer Führung durch Hebron mit der Gruppe "Breaking The Silence" konnte ich nicht teilnehmen. Während dieser vier Wochen gab es keine englischsprachige Guided Tour. Dabei hätte es mich sehr interessiert. Ehemalige Soldaten berichten von ihren Erfahrungen in Hebron, mit der Besatzung, mit den Menschen, und mit Gewissenskonflikten. Doch man kann nicht alles haben. Es ist für mich ein Grund, wieder zurückzukommen.

Bis hierher also meine diesjährige Nahostberichterstattung, die sich heuer nur auf Israel und Palästina beschränkt hat.

Danke an alle, die diesen Blog regelmäßig verfolgt haben! ;)

Viele Grüße,
euer Thorschten

PS: Hier noch einmal der Link zu unserer Friedensorganisation Rock of Peace!

Mittwoch, 3. Oktober 2012

Jaffa - Flohmarkt und Schawarma

Um einiges interessanter und ästhetischer als ihr Nachbar ist die Hafenstadt Jaffa. Hierher kommen Israelis am Schabbat, um eine Falafel zu essen. In den Straßen tummeln sich die Menschen, auf dem Flohmarkt in den Seitengassen wird noch kurz vor Sonnenuntergang gehandelt und gefeilscht.


Jaffa war einst die wichtigste Hafenstadt der Region. Die ägyptischen Ruinen auf dem Hügel in der Altstadt sind etwa 3.500 Jahre alt. Nach dem biblischen Bericht soll hier Jona auf seiner Flucht vor dem göttlichen Auftrag das Schiff nach Tarsis bestiegen haben. Wie auch Akko war Jaffa oft hart umkämpft und Objekt der Begierde verschiedener Herrscher. Obwohl viele der arabischen Einwohner seit 1948 vertrieben wurden, leben noch viele Araber in der Stadt. Sie sprechen Hebräisch mit ihren israelischen Nachbarn und Englisch mit den Touristen. Es geht sehr lebendig zu. Die Händler auf dem berühmten Flohmarkt sind hauptsächlich Juden, genauso wie viele ihrer Kunden.


Ins Auge stechen die große Moschee und der Glockenturm im Zentrum der Stadt. Die Mahmudiya-Moschee wurde erst 1812 fertiggestellt, obwohl Pläne schon ab 1730 vorlagen. Sie ist die größte Moschee der Stadt.


Der Glockenturm wurde 1906 zu Ehren des Sultans Abdul Hamid II. gebaut. Bis heute dominiert er die Neustadt von Jaffa.


In der Neustadt von Jaffa gibt es einige Schnellrestaurants, in denen man Falaffel und Schawarma essen kann. Im Vergleich zu Jerusalem oder den Palästinensergebieten erscheint ein fettiges Abendessen hier beinahe unerschwinglich für den Geldbeutel eines Rucksackreisenden. Und doch, am letzten Abend gönnt man sich mal wieder etwas Fleisch. Huhn und Lamm gemischt. Zur Verteidigung des Verkäufers muss gesagt sein: Es war meine Idee. Erst später ist mir aufgefallen, dass das Mischen von Säugetieren und Vögeln genauso ist, als wenn man ein Rindersteak zusammen mit gebratenem Lachs genießen würde. Ein Stilbruch ohnegleichen.
Doch das alles hat nichts mit Jaffa zu tun. Der abendliche Spaziergang führt uns weiter in Richtung Hafen. Hier kommen die Stadtmenschen aus der nahen Metropole zu einem gemütlichen Ausklang des Tages zusammen. Cafés und kleine Lokale laden ein zu einem entspannten Diner. 


Die Stadtverwaltung von Tel Aviv strebt an, den ehemaligen Hafenkai in eine stilvolle Ausgehmeile zu verwandeln, die der Fisherman's Wharf in San Francisco nachempfunden sein soll. Bis dahin ist es jedoch noch ein langer Weg. Bis jetzt säumen noch einige leere Hafengebäude aus Beton den Weg durch das ehemalige Fischereizentrum Palästinas und verbannen die Fischereiromantik vergangener Tage auf die alten Schwarzweißfotografien, die man am Straßenrand kaufen kann.

Fassaden von Tel Aviv

Tel Aviv ist angeblich die Stadt, die niemals schläft. Mit knapp über hundert Jahren ist sie noch eine recht junge Stadt. Für Touristen ist sie hauptsächlich interessant aufgrund ihres Nachtlebens, der trendigen Bars und Cafés und natürlich wegen des Strandes.
Ich persönlich habe Tel Aviv nie gemocht. Viel Verkehr, viele heruntergekommene Wohnviertel, zu hohe Luftfeuchtigkeit. Dabei hat es durchaus seine Reize, die Stadt zu erkunden und einen längeren Spaziergang vor allem durch die südlichen Stadtviertel zu unternehmen. Man stößt auf eine komplett andere Umgebung als man es vielleicht aus Jerusalem gewohnt ist. Hier ist es laut - auf eine andere Art. Es wird gearbeitet. Straßen voller Schreinerwerkstätten und Metallverarbeitungsbetriebe. Man bekommt an der südlichen Grenze zu Jaffa alles, von Schaufensterpuppen über Spiegel in allen Größen bis hin zu Straßenschildern.


Die Sägespäne fallen auf die Straße, Funken sprühen aus den Werkstätten heraus. Hier schlägt das Herz des arbeitenden Tel Aviv. Während ein Teil der Bevölkerung zusammen mit den Touristen am Strand liegt, schieben sich hier Autos und Transporter durch die Straßen.


Hier und da stößt man auf architektonische Leckerbissen: Seit den 1920er Jahren hatten deutsche Juden den Bauhaus-Stil mit ins damalige Palästina gebracht. Allein zwischen 1933 und 1939 wurden über 3.000 solcher Gebäude errichtet. Viele Häuser haben sich bis in unsere Tage gehalten und sind heute Teil des UNESCO-Weltkulturerbes. Im Stadtteil Florentin, in dem ich meine letzten Tage in Tel Aviv verbracht habe, findet man einige von ihnen.


Florentin entstand ab den 1920er Jahren und wurde anfangs größtenteils von jüdischen Einwanderern besiedelt, die vor dem nach dem Ersten Weltkrieg aufgekommenen Antisemitismus in Griechenland geflohen waren. Das Viertel ist nach David Florentin benannt, der das Gebiet damals erwarb.
Teile von Florentin waren lange ein Industriegebiet und als Wohngegend relativ unbeliebt. Durch die niedrigen Mieten kamen jedoch viele Künstler in die Gegend. Heute ist Florentin eines der Ausgehviertel geworden, in dem es zahlreiche Bars, Cafés und andere Attraktionen des Nachtlebens gibt. Zwischen 2001 und 2006 stiegen die Preise hier um 65% - im Vergleich zu 45% im restlichen Teil der Stadt.


Gleich neben Florentin liegt das erste Viertel, das außerhalb Jaffas entstanden war. Im Jahre 1887 wurde Neve Tzedek gegründet, lange bevor die Stadt Tel Aviv geboren wurde. Das Viertel mit seinen zumeist zweigeschossigen Gebäude war der bevorzugte Wohnort vieler Künstler und Schriftsteller um 1900. Unter ihnen war auch der berühmte Vertreter der jungen hebräischen Literatur Schmuel Josef Agnon, der später den Literaturnobelpreis erhalten sollte. Mit der Entwicklung Tel Avivs entfernten sich jedoch auch die wichtigen Zentren und Lebensmittelpunkte aus dem Süden der Stadt. Neve Tzedek verkam bis in die 1960er Jahre zu einem Slum. Seit Ende der 1980er Jahre wurde das Viertel jedoch wieder renoviert und neue Geschäfte und Boutiquen siedelten sich an.


Ein kleiner Spaziergang, vorbei an den Häuserzeilen der ersten Tel Aviver, lohnt sich auf jeden Fall.


Wenn man sich nach Norden bewegt stechen die Hochhäuser und Wolkenkratzer der modernen Stadt ins Auge, die hier den Horizont besiedeln und die Silhouette bestimmen.


Nach einem kleinen Stadtrundgang durch den Süden von Tel Aviv bemerkt man, dass auch diese Stadt auf gewisse Art und Weise ihren Charme hat. Gleich neben dem idyllischen und romantischen Jaffa gelegen tut sich Tel Aviv schwer, mit dem gleichen Flair aufzuwarten. Doch vielleicht muss man Tel Aviv und Jaffa heute in einem Atemzug nennen, denn im Laufe der Jahre ist hier etwas zusammengewachsen, das rein optisch irgendwie zusammengehört. Und beide Orte werden im Westen vom Strand begrenzt. Hier endet Israel. Hier endet auch Palästina. Hier gibt es nur noch die Wellen, die sich schäumend an den Felsen brechen. Hier geht, weit hinten am Horizont, die Sonne unter und lässt die Hitze verblassen.

Montag, 1. Oktober 2012

Sukkot - Das Laubhüttenfest

Fünf Tage nach Jom Kippur feiern Juden das siebentägige Laubhüttenfest (Sukkot). Es erinnert an den Auszug der Israeliten aus Ägypten und die Zeit, als das Volk von Moses aus der Sklaverei geführt wurde. Die Laubhütte (Sukka) steht bis heute für die lange Wanderung durch die Wüste auf der Sinai-Halbinsel.
In der Bibel kann man an mehreren Stellen nachlesen, wie dieses Fest entstand und wie es praktiziert wurde. Die Gesetzestexte der Thora beschäftigen sich vor allem mit dem Termin des Festes. Ein wenig mehr erzählt hingegen das Buch Nehemia, das die Rückkehr der Juden aus dem Babylonischen Exil beschreibt. Die zurückgekehrten Juden finden angeblich ein altes Gesetzbuch und lassen die Traditionen ihrer Väter wieder aufleben:

Und sie fanden im Gesetz geschrieben, dass der Herr durch Moses geboten hatte, dass die Israeliten am Fest im siebenten Monat in Laubhütten wohnen sollten. Da ließen sie es kundtun und ausrufen in allen ihren Städten und in Jerusalem und sagten: Geht hinaus auf die Berge und holt Ölzweige, Balsamzweige, Myrtenzweige, Palmenzweige und Zweige von Laubbäumen, dass man Laubhütten mache, wie es geschrieben steht. Und das Volk ging hinaus und holte sie und machte sich Laubhütten, ein jeder auf seinem Dach und in seinem Hof und in den Vorhöfen am Hause Gottes und auf dem Platz am Wassertor und auf dem Platz am Tor Ephraim.
(Nehemia 8,14-16)

Genaueres steht in den Büchern des Talmud geschrieben. Es gibt eine ganze Menge an Regelungen und traditionellen Bräuchen rund um das Laubhüttenfest. Das wichtigste Element ist natürlich die Laubhütte. Schon vor Jom Kippur wird mit dem Bau begonnen. Vor allem in den Stadtvierteln der Orthodoxen kann man das bunte Treiben beobachten. An bestimmten Stellen gibt es Palmzweige zu kaufen.


In der Laubhütte wird zusammengesessen, gefeiert, gegessen und manchmal auch geschlafen. Hier spielt sich für die nächsten sieben Tage ein Großteil des Lebens ab. Sie wird von innen geschmückt mit echten Früchten oder Ersatz aus Plastik.


Eine wichtige Regel besagt, dass man durch das Dach der Laubhütte nachts die Sterne sehen können muss, wie einst auch Moses und die Israeliten in der Wüste die Sterne sahen. Aus diesem Grund sind Balkone in Israel (auch außerhalb der jüdisch-orthodoxen Wohnvierteln) meistens versetzt, damit der Blick nach oben nicht durch den Balkon im nächsten Stockwerk versperrt ist.

Ein weiteres wichtiges Accessoire des Laubhüttenfestes ist der Lulav, ein Strauß, der aus vier Teilen besteht: Die Basis bildet der Palmzweig (Lulav), der dem Strauß auch seinen Namen gibt. Drei Myrtenzweige (Hadassim), zwei Bachweidenzweige (Aravot) und eine zitronenartige Frucht, der Etrog, gehören noch dazu. Dieser Strauß macht die Nähe zum antiken Erntedankfest und zu Fruchtbarkeitsbräuchen deutlich. Der Lulav wird in der Synagoge während des Gottesdienstes benötigt und bei bestimmten Gebeten in bestimmte Richtungen geschwenkt.
Vor allem der Etrog, der so aussieht wie eine Zitrone, versetzt ganze Straßen in helle Aufregung. Je nach ritueller Reinheit und visueller Unversehrtheit kann so eine Frucht zwischen 25 Schekeln und einem ganzen Vermögen kosten. Jeder orthodoxe Jude will einen möglichst guten Etrog abbekommen.


Verschiedene Geschäfte, die das ganze Jahr über andere Sachen verkaufen, warten nun mit Kisten voller Früchten auf. In der Hauptstraße von Mea Schearim, dem ältesten Jerusalemer Orthodoxenviertel, kann man am besten beobachten, wie in den Läden verhandelt und begutachtet wird. Vereinzelt stehen Männer auch vor den Schaufenstern und halten einen Etrog ins Sonnenlicht oder untersuchen die Oberfläche misstrauisch mit einer Lupe oder einem Vergrößerungsglas, mit dem man sonst Diamanten auf ihre Reinheit überprüft. - Ich hätte nie gedacht, dass sich diese Szenen wirklich abspielen. Ich hatte Ähnliches bisher nur in dem Film "Ushpizin" gesehen, doch es ist tatsächlich so. Alle Welt reißt sich um die beste Zitrone...


Es gibt Laubhütten in jeder Stadt. Vor jeder Synagoge gibt es eine, die für die Öffentlichkeit gedacht ist. Sogar manche Cafés haben vorgesorgt und ihrerseits mit dem Bau begonnen. Stellenweise geht die Originalität verloren und weicht dem Kitsch des 21. Jahrhunderts.

Eine Sukka vor der Klagemauer.

Das Laubhüttenfest beschert der Bevölkerung wieder zwei ruhige Feiertage ohne öffentlichen Nahverkehr. An den übrigen Tagen wird gearbeitet. Für Touristen ist es wieder schwer, von einem Ort zum nächsten zu kommen.
Ich sitze jedoch sowieso in Tel Aviv und verbringe die letzten Tage meines diesjährigen Israel- und Palästina-Aufenthalts. Das Wetter ist unheimlich schwül, ab und zu regnet es - um danach noch schwüler zu werden. Da sehnt man sich doch nach dem Goldenen Oktober in der Heimat, zwischen Wald und Weinbergen. Meine vier Wochen im Nahen Osten neigen sich langsam, aber sicher dem Ende zu und die letzten Blogeinträge warten darauf, geschrieben zu werden.

Laubhütte auf einem Tel Aviver Balkon.

Samstag, 29. September 2012

In Jenin kräht der Hahn

Nach verschiedenen kurzen Touren nach Hebron und Nablus wollte ich nun endlich auch einmal nach Jenin kommen - in die Stadt, die vor allem wegen ihrer Rolle während der Zweiten Intifada traurige Berühmtheit erlangte hatte. Vor allem das Flüchtlingslager galt als Hochburg der Hamas und der Al-Aqsa-Brigaden. Von hier aus starteten zwischen den Jahren 2000 und 2003 mindestens 28 Selbstmordattentäter ihre tödliche Mission. Im Jahr 2002 rückte die israelische Armee ein, es gab tagelange Gefechte, zahlreiche Tote und ein Teil des Flüchtlingslagers wurde von israelischen Bulldozern zerstört. Die aktuellste Erwähnung fand Jenin jedoch in dem Film "Cinema Jenin", der über die Renovierung des gleichnamigen Kinos der Stadt gedreht wurde. Dieses Kino wollte ich auf jeden Fall sehen.

Zusammen mit Ann Cathrin, Chris und unserem palästinensischen Bekannten Wahib, der in Tübingen studiert, machten wir uns mit einem Mietauto auf den Weg nach Norden. Chris und ich stießen von Jerusalem aus am Qalandiya-Checkpoint zu den beiden anderen.


Mit unserem roten Honda fuhren wir dann zunächst in Richtung Nablus. Erstaunlicherweise sollten wir von keinem einzigen Checkpoint aufgehalten werden. Die massiven Betonblöcke säumen zwar noch den Weg und die Straße ist von Verkehrsberuhigungsmaßnahmen entschleunigt, doch es sind kaum israelische Soldaten zu sehen. Allein einige jüdische Siedlungen liegen links und rechts der Siedlerstraße, die zurzeit größtenteils auch für palästinensische Autos geöffnet ist. Vor einigen Jahren noch gab es stellenweise kein Durchkommen.


Etwa 80 Kilometer liegen zwischen Jerusalem und Jenin. Unser Weg führt uns durch die bergige Landschaft Samarias, vorbei an israelischen Siedlungen und arabischen Ortschaften, durch heiße Täler und vorbei an Olivenhainen. Eine arabische Ortschaft sticht vor allem ins Auge, weil die Einfahrt durch eine Allee aus Palmen erfolgt. Hier stünden 80% der Häuser leer, meint Wahib. Viele Palästinenser würden im Ausland leben und nur einen Monat im Jahr in ihrer Heimat verbringen.
Hinter Nablus machen wir Rast an einem faszinierenden Ort. Direkt an der Straße liegt ein Bachlauf, der zu einer gastronomischen Attraktion ausgebaut worden ist: Man kann hier auf Plastikstühlen im Wasser sitzen, sich die Füße abkühlen, eine entspannte Wasserpfeife rauchen und grillen - sofern man seinen Grill selbst mitgebracht hat. Der Eintritt kostet umgerechnet zwei Euro, die Wasserpfeife ist günstig. Dazu eine Tasse Tee mit Nana. Dann geht es weiter.


Nun sind es nur noch 40 Kilometer nach Jenin. Die Landschaft bleibt hügelig. Erst kurz vor der Stadt kommen weite Felder in Sicht. Hier gibt es große, landwirtschaftlich nutzbare Flächen.
Jenin ist an einem Freitagnachmittag wie ausgestorben. Anders als in Jerusalem sind die Geschäfte geschlossen und der Basar ist leer. Die 36.000 Einwohner zählende Stadt ist ruhig und auch der Verkehr hat Pause.


Auch am Busbahnhof scheint nicht viel los zu sein. Genau gegenüber liegt das zum Cinema Jenin gehörende Guesthouse, in dem wir für eine Nacht unterkommen wollten. Die Atmosphäre ist nicht die spritzigste, aber vielleicht liegt das am Wetter. Wir unterhalten uns mit den Volontären, die allesamt aus Deutschland kommen. Das Kino, dessen mehr oder weniger dramatische Geschichte in dem Film beschrieben wurde, den ich mir vor ein paar Monaten in Tübingen im Kino angesehen hatte, hat kaum Vorstellungen, da niemand von den Einheimischen hingeht. Im letzten Monat hat es ganze 50 Schekel eingenommen, umgerechnet etwa zehn Euro. Nachdem eine Kooperation mit Israel verhindert, abgelehnt und verneint wurde, schien es zunächst bergauf zu gehen. Doch die Uneinigkeiten innerhalb der palästinensischen Führung des Kinos verringerte das Vertrauen der Bevölkerung. Es gab vor ein paar Tagen eine Filmvorführung vor zwei Personen. Wir hätten also zu viert gute Chancen, einen Film zu sehen, meint einer der Volontäre, der wie wir in Tübingen studiert.
Angeregt wurde die Renovierung und Neueröffnung des einzigen Kinos der Stadt, das seit 1987 geschlossen war, von Ismael Khatib, der durch den Film "Das Herz von Jenin" bekannt geworden war, weil er die Organe seines von israelischen Soldaten erschossenen Sohnes spendete, und von Marcus Vetter, einem deutschen Dokumentarfilmer. In "Cinema Jenin" wird eindrucksvoll beschrieben, wie lang der Weg zu einem funktionierenden Kino war. Heute wird das Projekt hauptsächlich vom deutschen Auswärtigen Amt und dem Goethe-Institut in Ramallah getragen. Deshalb finden in einem extra hierfür eingerichteten Klassenzimmer im Guesthouse auch Deutschunterricht statt. Die deutschen Volontäre geben darüber hinaus auch Workshops für Kinder, in denen sich alles um das Filmemachen dreht. Leider sind die einzelnen Projekte schlecht mit der Führung abgestimmt - und als vor ein paar Tagen 30 Kinder mitsamt ihrer Eltern auftauchten, waren die Volontäre heillos überfordert, da man sie vorher nicht informiert hatte.


Das Guesthouse bietet Zimmer, in denen aufgrund der Hitze nur die Härtesten der Harten schlafen können. Doch es gibt auch eine Dachterrasse. Ein schattiger Balkon lädt zum Entspannen ein. Er ist mit einer Verkleidung aus dünnen Bambusrohren abgeschottet - gegen die Sonne, aber auch gegen die misstrauischen Nachbarn. Aus dem Film weiß ich, dass das Guesthouse für die Volontäre aus Übersee umgebaut wurde, die bei der Renovierung des Kinos halfen. Die gemeinsame Unterbringung von Männern und Frauen in einem Haus sorgte für Gerüchte.


Unten in der Lobby hängt ein Foto von Juliano Mer-Khamis. Er hat beim Aufbau des Kinos ebenfalls eine wesentliche Rolle gespielt. Seine Mutter, eine Jüdin, hatte im Flüchtlingslager der Stadt das Freedom Theatre gegründet, das er erfolgreich weiterführte. Palästinensischen Kindern sollte so Hoffnung und Perspektiven gegeben werden. Der arabisch-jüdische Künstler wurde am 4. April 2011 von einem maskierten Täter vor seinem Haus erschossen. Nach seinem Tod ging ein Teil der Volontäre vom Cinema Jenin fort. Heute würde Mer-Khamis, der seinen Wehrdienst bei der israelischen Fallschirmbrigade abgeleistet hatte und sich später zu 100 Prozent als Jude und zu 100 Prozent als Palästinenser bezeichnete, dem Projekt eine große Stütze sein. Finanziell wird das Cinema Jenin bis Jahresende noch vom Auswärtigen Amt getragen. Was danach passiert, scheint keiner so recht zu wissen. Bis jetzt ist man nicht gewinnorientiert und es genügt, wenn man auf Null herauskommt. 

Unser Nachmittag ist noch nicht zu Ende. Wir essen gut und viel in einem Restaurant, in dem ein Verwandter von Wahib arbeitet. Huhn, Lamm und zuvor eine kaum zu überschauende Vielzahl von Hummus, Salaten und Gemüse, dazu eine kühle Cola. Der Tag war unheimlich heiß und alle sind froh, einen Ort mit Klimaanlage gefunden zu haben. Nach dem Essen begleitet uns ein junger Mann namens Qais zu seinem Arbeitsplatz nördlich von Jenin, einer Open-Air-Imbissbude in einem kleinen Park. Hier genießen wir den zweiten Tee und die zweite Wasserpfeife des Tages, während die Sonne unter- und der Mond aufgeht. Unweit von hier ist die Grenze zum israelischen Staatsgebiet. Hier sitzen wir eine Weile, hören arabische und hebräische Musik, bevor wir mit dem Auto zurück zum Guesthouse fahren und den Tag auf der Dachterrasse ausklingen lassen. Qais will am nächsten Tag mit uns durch Jenin fahren und uns die Stadt zeigen.


Am nächsten Morgen kräht der Hahn. Mehrmals. Und er setzt die Definition für "Morgen" schon sehr früh an. Doch wir wollen ohnehin früh los. Nach einem kleinen Frühstück mit Hummus und Fool (gekochten Bohnen) treffen wir uns vor der Tür mit Qais.
Heute ist Jenin kaum wiederzuerkennen: Menschen und Autos - aber vor allem Autos - füllen die Straßen. Man betätigt fleißig die Hupe, um sich Gehör zu verschaffen. Wir bahnen uns unseren Weg durch die Stadt. Am Eingang des Flüchtlingslagers zeigt uns Qais eine Statue: Es ist ein Pferd, das aus den Resten eines Rettungswagens gebaut wurde, der von der israelischen Armee bombardiert wurde.


Man kann sogar den Schriftzug "Ambulance" noch erkennen... - Die Statue steht unweit von Juliano Mer-Khamis' schon erwähnten Freedom Theater.
In Jenin scheint es nicht allzu viel zu geben, das man besichtigen könnte. Doch es gibt Fotomotive ohne Ende. Und hier und da findet man Raritäten und Zeugen der Geschichte - auch über den leidigen Nahostkonflikt hinaus. So stößt man neben einem großen Bankgebäude auf ein Denkmal der deutschen Fliegerstaffel, die hier im Ersten Weltkrieg zur Unterstützung der Türken stationiert war. Es erinnert an die Gefallenen, die im Kampf gegen die Briten ihr Leben ließen.


Nach diesem "Schmankerl" tauchen wir ein in das Marktleben. Tausende von Menschen drängen sich durch die Gassen und Wege. Unter ihnen sind viele israelische Araber, die aus dem Norden nach Jenin kommen, um billig einzukaufen. Die bewachten und unbewachten Parkplätze sind überfüllt. Auffällig viele Mädchen und junge Frauen ohne Kopftuch. Die meisten von ihnen kommen von der anderen Seite des Sperrzauns.
Wir besuchen die Fatima-Khatun-Moschee, die etwa 500 Jahre alt ist, was man ihr aber nicht wirklich ansieht. Innen ist sie außergewöhnlich schlicht. Außerhalb der Gebetszeiten ist sie fast leer. Nur einige alte Männer. Ein altes Grab erinnert an die Gründerin. Ihr Mann war Bosnier und osmanischer Gouverneur von Damaskus. Damals war das Land unter den Osmanen vereint.


Draußen, vor dem Gebetshaus, tummelt sich das Leben. An den Wänden kleben vereinzelt noch Plakate, die an die Märtyrer (oder Terroristen) von damals erinnern, als Jenin noch eine Hochburg des palästinensischen Widerstandes war und Terroranschläge auf israelische Busse täglich vorkamen. Doch im Stadtzentrum gibt es deutlich weniger solcher Plakate als in Nablus, was mich erstaunt. Immerhin hatte Jenin eine andere Stellung als die übrigen Städte. Allgemein spürt man jedoch sehr wenig Knistern in der Luft. Jenin präsentiert sich als eine Stadt wie alle anderen. Touristen sieht man neben den Käufern aus Israel keine, doch es müssen welche da sein. Auch in der Stadtbibliothek, zu der uns unser einheimischer Guide führt, erweckt man den Eindruck, als wären Touristen nichts ungewöhnliches. Wir werden auf einen Tee eingeladen, nachdem man uns die verschiedenen Räume und Abteilungen der Bibliothek gezeigt hat. Um hierher zu kommen muss man das Treppenhaus mit seinen steilen Stiegen überwinden. Noch ein Stockwerk weiter oben gibt es ein Archiv, wo die Ausgaben dreier Tageszeitungen seit den Achtzigern aufbewahrt werden. Zwei Männer sitzen in einem eigenen Abteil und reparieren alte Bücher.


Das Gebäude wurde wie auch die Schule nebenan von den Türken gebaut. Die Osmanen herrschten in Palästina wie in den gesamten umgebenden Regionen bis 1917, als sie im Zuge des Ersten Weltkrieges von den Briten aus ihrem jahrhundertelangen Herrschaftsbereich zurückgedrängt wurden.


Vom Balkon der Bibliothek kann man die Abu-Bakr-Straße überblicken, die nach dem ersten muslimischen Kalifen benannt ist. Sie ist die Hauptstraße der Stadt. Hier begeben wir uns auch auf den Rückweg zu unserem Mietwagen. Durch die handelsfreudigen Händler und vorbei an hupenden Autos bahnen wir uns den Weg zum staubigen Parkplatz. Wir fahren Qais zurück zu seinem Arbeitsplatz und machen uns dann auf nach Ramallah. Die Fahrt geht durch die gewohnte Landschaft, vorbei an Bergen und über steile Hänge. Das Grün des Nordens nimmt ab, je weiter man nach Süden kommt. Doch genauso verhält es sich auch mit der Hitze. In Ramallah angekommen beginnt es sogar leicht zu nieseln - für eine halbe Minute. Der Himmel ist bedeckt. Und am Abend, als ich schon lange wieder im Jerusalemer Hostel sitze, regnet es dann sogar eine Weile. Doch bevor Chris und ich wieder im Abraham Hostel angekommen waren, mussten wir uns in die lange Schlange vor dem Qalandiya-Checkpoint einreihen. Während man von Betlehem aus mit dem Bus nahezu unbeachtet über die Grenze kommt, muss man hier durchs Drehkreuz gehen, auf das grüne Licht warten, den Gürtel ausziehen und sich durchleuchten lassen. Der gelangweilte israelische Soldat verraucht unterdessen mit seiner Wasserpfeife das kleine Kabuff, in dem er sitzt.

Der Trip hat sich auf jeden Fall gelohnt. Jenin hat mir irgendwie gefallen. Es ist eine Stadt wie viele andere im Westjordanland, mit vielen freundlichen Menschen. Doch sie ist kleiner und hat eine dramatischere Geschichte. Und ein Tag reicht sicherlich bei weitem nicht aus, um die Probleme der Menschen, die politischen Strukturen und das Zukunftspotenzial auszukundschaften. Deutlich wird nur, dass Projekte wie etwa das Cinema Jenin noch mehr (oder anders) gefördert werden müssen, da das Vertrauen innerhalb der Bevölkerung noch fehlt. Auch die Stadtbibliothek könnte mit Sicherheit Unterstützung gebrauchen. Bildung ist ein kostbares Gut und schafft Perspektiven für die Zukunft.

Morgen werde ich einen letzten Blick auf Jerusalem werfen und mich dann in Richtung Westen nach Tel Aviv vorarbeiten, um meine letzten Tagen im Land mit einer gezielten Erholungseinheit am Strand verbringen - in der Hoffnung, nicht dem nächsten Sonnenbrand zum Opfer zu fallen.


Der Beitrag ist auch auf der Seite von Rock of Peace veröffentlicht.

Donnerstag, 27. September 2012

Jom Kippur in Jerusalem

Der "Tag der Sühne" (hebräisch Jom ha-Kippurim) wird jedes Jahr zehn Tage nach dem jüdischen Neujahrsfest gefeiert. Nach dem sich wöchentlich wiederholenden Schabbat ist Jom Kippur der höchste jüdische Feiertag. Es geht um die Vergebung der Sünden, um die Beziehung zwischen Gott und den Menschen, aber auch um die Beziehung der Menschen untereinander. In den Tagen vor Jom Kippur bemühen sich religiöse Juden, Ungereimtheiten und Streit mit ihren Mitmenschen aus der Welt zu schaffen. Die dominierende Farbe dieser Zeit ist weiß: Vor allem an der Klagemauer stechen die weißen Tischbeläge ins Auge, mit denen die kleinen Gebetspulte bedeckt sind, und die helle Kleidung der betenden Gläubigen. 


In der Antike wurde Jom Kippur im Tempel begangen. Es war der einzige Tag, an dem der Hohepriester das Allerheiligste betreten durfte - nach einer langen Prozedur der rituellen Vorbereitung und Reinigung. Er verspritzte über der Bundeslade das Blut zweier Opfertiere und empfing die Vergebung für sein Volk.
Ein weiterer Brauch der Antike war es, über zwei Böcke das Los zu werfen. Während das eine Tier dann geschlachtet wurde, trieb man das andere hinaus in die Wüste, zusammen mit den Sünden des Volkes. Die Bezeichnung "Sündenbock" stammt von diesem Brauch her.

Bis heute ist Jom Kippur das wichtigste der jüdischen Feste, an dem auch die meisten säkularen Juden in die Synagoge gehen. Sogar das ganztägige Fasten (25 Stunden) wird von vielen nicht- oder wenig Religiösen eingehalten. Man geht abends ganz in weiß in die Synagoge, um das für diesen Feiertag charakteristische Kol Nidre zu hören, einen uralten aramäischen Gebetsgesang. In der Großen Synagoge in Jerusalem wurde es von einigen a-capella-Kantoren einstudiert - ein wahrer Ohrenschmaus. Bei bestimmten Teilen konnte die Gemeinde mitsingen und mitbeten, andere wurden vom Oberkantor, einem älteren Herren mit starker Stimme, vorgesungen. Der "Chor", bestehend aus anderen Männern, stimmte an speziellen Stellen mit ein.
Der Gottesdienst dauert lange. Auch den nächsten Tag verbringen viele Juden komplett in der Synagoge. Das Gebet macht vielleicht das Fasten ein wenig erträglicher. Um den Tag zu verkürzen wurde die Winterzeit einige Tage vor Jom Kippur früher als anderswo auf der Welt wieder eingeführt. Dadurch wird es früher Abend. Doch gefastet wird 25 Stunden.
In Israel fährt den ganzen Tag kein Auto. In den arabischen Stadtvierteln von Jerusalem gilt diese Regelung nicht, doch der Rest der Stadt steht still. Nur Polizeistreifen und Ambulanzen patrouillieren gelegentlich durch die leeren Straßen. Menschen erkunden die Stadt per Fahrrad und benutzen die großen Hauptverkehrsadern, auf denen sonst in den Stoßzeiten kein unbelasteter Windhauch zu erhaschen ist. Einmal im Jahr hat man die Chance, überall zu gehen und zu sitzen, ohne Angst vor Bussen und Taxis haben zu müssen.


Montag, 24. September 2012

Leute die man so trifft: Einblicke in die Jerusalemer Stadtverwaltung

Während meines Israel-Aufenthalts habe ich einige Zeit bei meinem ehemaligen Arbeitskollegen Chen verbracht. Er gehört auch zweifellos zu den vielen interessanten Menschen, die man auf Reisen trifft. Seine Studentenbude bot mir die Möglichkeit, ein wenig Abstand vom Hostel-Leben zu nehmen, das auf die Dauer vor allem finanziell etwas ins Gewicht fällt. Bei Freunden kommt man jedoch mit einem einfachen, aber guten Geradstettener Trollinger des Jahrgangs 2009 billig unter.

Hier finde ich endlich jemanden, mit dem man ein wenig über Politik und aktuelle Themen reden kann. Chen , dessen Großeltern in den 1950er Jahren aus dem Irak eingewandert waren, arbeitet in der Jerusalemer Stadtverwaltung als Office Assistant für Meir Margalit, einen Politiker der Meretz-Partei. Der Anthropologie-Student ist selbst in dieser Partei aktiv und besucht regelmäßig Demonstrationen in Tel Aviv und Jerusalem - für die Rechte der Homosexuellen, für soziale Gerechtigkeit, gegen Hauszerstörungen in Ostjerusalem. Als Assistent von Meir Margalit zu arbeiten bot Chen nun neue Perspektiven und Möglichkeiten: Margalit ist zuständig für die Angelegenheiten Ostjerusalems. Er ist damit der erste Politiker einer linken Partei seit langer Zeit, dem dieser Zuständigkeitsbereich zufiel. Bisher waren meistens rechte Politiker für das größtenteils von Palästinensern bewohnte Ostjerusalem zuständig, was aufgrund der schwierigen politischen Lage in der Vergangenheit nicht selten für Komplikationen sorgte. Die Stadt steckt voller Probleme. Immer wieder lassen sich radikale jüdische Siedler in arabischen Wohngegenden nieder und beanspruchen Land für sich, was von den meisten rechten Politikern gefördert oder zumindest geduldet wurde. Illegal errichtete Häuser stehen auf Land, das seit 1967 offiziell als Grünanlage gilt, und werden oft mit einer 24stündigen Vorwarnung abgerissen. Die Bewohner werden auf einen Schlag obdachlos. In den Medien wird hier von der "Judaisierung Ostjerusalems" gesprochen. Natürlich sind die Strukturen und bürokratischen Abläufe, die dahinter stecken, nicht mit wenigen Sätzen erklärt. Doch die nationalistische Haltung der Stadtverwaltung sei bezeichnend. Margalit ist jedoch bekannt für seine kritischen Haltungen gegenüber den Ansichten des Jerusalemer Bürgermeisters Nir Barkat. Dieser vertritt nach Chen eine sehr diskriminierende und nationalistische Position gegenüber den palästinensischen Einwohnern der Stadt. In der Stadtverwaltung würden viele gute Menschen arbeiten, sagt Chen. - Aber Politik ist schließlich kompliziert.

Meir Margalit selbst war zunächst auf dem rechten Flügel der Politik angesiedelt. Der in Argentinien geborene Juden kam 1972 mit einer zionistischen Jugendgruppe nach Israel. Während seines Militärdienstes gründete er sogar eine jüdische Siedlung in Gaza. Nach seiner Teilnahme am Jom-Kippur-Krieg 1973 änderte sich seine Haltung jedoch grundlegend und er wechselte zur radikalen Linken. Im Jahr 2008 wurde er dann zum zweiten Mal in den Stadtrat gewählt, wo er die Meretz-Partei vertritt.



Die Meretz-Partei war die erste, die die Notwendigkeit eines palästinensischen Staates an der Seite des israelischen anerkannte. Die Partei wurde 1992 als Wahlbündnis gegründet und bildet heute eine linksliberale Splitterpartei, die wie viele andere Splitterparteien einige wenige Sitze in der Knesset belegt. Sie unterscheidet sich von der sozialdemokratischen Avoda, dem kommunistischen Chadasch und der arabischen Mitte-Links-Partei Balad. Die Parteienlandschaft in Israel ist sehr vielfältig. Aufgrund der niedrigen Hürde für den Einzug in die Knesset haben auch kleine, unbedeutende Parteien eine Chance. Dies erleichtert jedoch nicht unbedingt die Regierungsbildung. Dominiert wird die israelische Politik jedoch von der liberalen Kadima-Partei, dem rechten Likud-Block, der säkular-nationalistischen Partei Israel Beiteinu und der sozialdemokratischen Avoda dominiert. Auch die ultraorthodoxe Schas-Partei hat nicht zu vernachlässigendes Gewicht. Alle anderen Parteien - Meretz und die arabischen Parteien eingeschlossen - bleiben ohne wirkliche Bedeutung.

Die aufregenden Tage des Protests gegen die soziale Lage der Bevölkerung in Israel sind vorbei. Vor einigen Tagen hat Chen zusammen mit einigen anderen Meretz-Aktivisten gegen die Uhrumstellung demonstriert. In Israel wird die Uhr immer vor Jom Kippur auf Winterzeit zurückgestellt - gut eineinhalb Monate vor Europa und den anderen Ländern. Der Grund? Religiöse Juden fasten an Jom Kippur. Nach Aussage der Ultraorthodoxen werde das Fasten erleichtert, wenn es eine Stunde früher dunkel werden würde. Was eigentlich Unsinn ist, behaupten viele Gegner, denn gefastet wird ohnehin 25 Stunden. - Es gäbe viele Gründe, gegen die Orthodoxen zu demonstrieren. Sie zahlen keine Steuern, bekommen Gelder vom Staat, arbeiten nicht, bekommen dafür aber zwischen sechs und elf Kindern. Und sie sind vom Wehrdienst befreit. Zwar regt sich in der israelischen Gesellschaft langsam Widerstand, doch es werde wohl nie zu einer Pflicht für die Orthodoxen kommen, meint mein Kollege Chen. Und selbst wenn - ein Orthodoxer würde wohl eher ins Gefängnis gehen, als seinen Wehrdienst für ein Land abzuleisten, dessen Existenz er selbst als Gotteslästerung auffasst.

Im Treppenhaus kleben Sticker der Partei. In Chens Wohnung stapeln sich die Kisten. Diese Woche zieht er um in einen anderen Stadtteil. Dazu muss er seine hunderte von Büchern auf allen möglichen Sprachen irgendwo unterbringen. Auch ich verlasse seine Wohnung wieder, um im Hostel zu wohnen und so an Jom Kippur näher am Stadtzentrum zu sein. An diesem Tag steht der Verkehr still und man ist überall recht abgeschnitten. Ich will jedoch abends in die Synagoge gehen und muss deshalb zentral wohnen. Und der dazugehörige Bericht wird dann auch folgen.

Freitag, 21. September 2012

Ein kurzer Abstecher nach Hebron

Wahrscheinlich waren es meine Nasennebenhöhlenentzündung, das beginnende Fieber und die September-Sonne, die mich von einem längeren Ausflug nach Hebron abgehalten haben. Diese Stadt, der ich persönlich noch nie etwas abgewinnen konnte, die aber ein Muss für jeden Besucher des Heiligen Landes ist, hatte ich in der Vergangenheit schon mehrere Male besucht.

Dieses Jahr bin ich von Jerusalem aus mit den arabischen öffentlichen Verkehrsmitteln angereist. Mit dem Bus vom Damaskustor in Jerusalem aus bis kurz vor Betlehem, dann weiter mit dem Sammeltaxi direkt nach El-Chalil, wie Hebron auf Arabisch heißt. Die Fahrt dauert eine knappe Stunde. Keine Checkpoints, keine Komplikationen. In der Stadt selbst herrscht Hochbetrieb. Der Basar ist um die Mittagszeit mit Menschen gefüllt und äußerst lebendig.


Nach einigem ziellosen Herumlaufen möchte ich zur Abrahamsmoschee, der Hauptsehenswürdigkeit, und in die jüdische Siedlung. Da Hebron die größte Stadt des Westjordanlandes ist bin ich einigermaßen verloren. Ein Taxifahrer macht das große Geld mit mir, indem er mich in die Nähe des Zielortes bringt. In jenem Teil der Altstadt, der an die jüdische Siedlung angrenzt, ist wenig los. Hier fällt man dann auch wieder auf als westlicher Tourist und erntet die misstrauischen Blicke der Umstehenden. Irgendwie gelingt es mir nicht, zu dem Heiligtum vorzudringen. Zu viele geschlossene Durchgänge sind im Weg. Und der Eingang zur jüdischen Siedlung, von der aus man auch zu den Gräbern von Abraham, Isaak und Jakob sowie deren Frauen gelangt, befindet sich anderswo. Ich laufe nach Gefühl und komme dann näher an mein Ziel.

Wandmalerei im arabischen Hebron

Irgendwann erreiche ich auch wieder die Straße, die man aufgrund der Wurfattacken jüdischer Siedler mit Gittern und Netzen abgesichert hat. In alten Reiseführern ist noch das Bild einer verwüsteten und unzugänglichen Straße zu sehen. Heute pocht hier das Leben der Stadt. Neben einigen kleineren Reisegruppen, die eine politische Führung absolvieren und sich (meist einseitig) weiterbilden lassen, trifft man hier auf die normalen Bewohner der Gegend, die ihr Geld in Kleidung und Nahrung investieren. Auf den Gittern liegen jedoch noch Steine, Dosen und aller möglicher Unrat.


Aus einem der Geschäfte klingt einschlägige Musik... - Da ich als selbsternannter Nahostexperte aus meinen Recherchen auf Youtube das ein oder andere Hamas-Kampflied kenne und (ohne jedoch den Text einwandfrei zu verstehen) auch zuordnen kann, identifiziere ich einen mehr oder weniger bekannten Nasheed, der aus dem Kleidergeschäft tönt und Raketen, Molotow-Cocktails und Märtyrer besingt.


Am Übergang zur jüdischen Siedlung spricht mich ein angeblicher Student von der örtlichen Universität an. Er will mir die Wahrheit zeigen, denn keiner kenne sie so gut wie er. Er erzählt mir etwas von den Juden und von den Osloer Verträgen. Ich erkläre ihm, dass ich schon einmal hier war und dass ich mich ein wenig auskenne.
In Hebron will jeder seine Version der Geschichte loswerden. - Es tut mir leid, aber irgendwie mag ich diese Stadt nicht.
Und es wird auf der anderen Seite ja nicht besser.

(Um die Dramatik zu steigern habe ich die nächsten Fotos in Schwarz-weiß geschossen. Ich kündige das hier an, damit niemand auf die Idee kommt, es wäre ein von mir heimlich eingebautes und irgendetwas bezwecken wollendes Stilelement. Es passt nur einfach zu dieser Stadt.)

In der Siedlung ist nichts los. Sogar der Checkpoint davor sieht dieses Mal recht gleichgültig aus. Der Palästinenserin vor mir schaut ein Soldat kurz in die Tasche und winkt sie dann durch. Normalerweise muss man hier Schlange stehen. Mich fragt man, was ich drüben getan hätte. Ich muss nicht einmal den Rucksack öffnen.


In der jüdischen Siedlung von Hebron leben ungefähr 800 Siedler. Sie werden von Soldaten der israelischen Armee beschützt. Daneben gibt es in diesem Teil der Stadt noch 32.000 Palästinenser. Die bekannte Straße der Siedlung, al-Shuhada Street, ist gesäumt von zwangsgeräumten und versiegelten Geschäften. Hier ist kein Leben zu spüren. Nur vereinzelt kommen palästinensische Kinder aus der Schule zurück.


Die radikal-fundamentalistischen Juden, die hier leben, wollen die heiligen Stätten schützen. Die Höhle, die einst der Patriarch Abraham als Begräbnisstätte für sich und seine Frau gekauft hatte, ist ein wichtiges Heiligtum sowohl im Judentum als auch im Islam. Beide Religionen teilen sich diesen Ort.


Innerhalb der jüdischen Siedlung erinnern Schilder und Gedenktafeln an die Toten, die in der Vergangenheit den Gräueltaten von palästinensischen Terroristen zum Opfer gefallen sind. Es wird ausführlich das Massaker von 1929 beschrieben, bei dem 67 Juden ermordet worden waren. Das Massaker war traumatisch für die jüdische Gemeinde von Hebron, wird bis heute jedoch auch stark ideologisiert. Von den vielen arabischen Familien, die hunderte Juden vor dem Tod retteten und in ihren Häusern versteckten, ist nirgends die Rede.

Eine Tafel erinnert an die Opfer eines Attentats

Hebron ist eine Stadt der Massaker. Auch die Muslime hatten darunter zu leiden: Der jüdische Extremist Baruch Goldstein stürmte 1994 den muslimischen Teil des Heiligtums und erschoss 29 betende Palästinenser, bevor er mit einem Feuerlöscher erschlagen wurde. Vielen Siedlern gilt er heute als Märtyrer, sein Grab wird verehrt.

Eine Stadt voller Geschichten - und es sind fast ausnahmslos Geschichten des Leids. Hebrons jüdische Siedlung ist verbarrikadiert, Mauern und Stacheldraht sieht man an jeder Ecke. Die Menschen ignorieren sich oder feinden sich an. Einen Mittelweg scheint es nicht zu geben. Ich habe einmal eine Dokumentation über die jüdische Siedlung in Hebron gesehen, da wurde eine Siedlerin gefragt, ob sie die Araber nicht stören würden. Wenn sie aus dem Fenster sehe, blicke sie ja direkt auf die arabische Seite. Die Frau überlegte kurz, dann zuckte sie nur mit den Schultern und sagte so etwas wie: "Ja, natürlich... es wäre schöner, wenn sie weg wären. Aber für mich existieren sie gar nicht." - In Hebron lebt man aus Feindseligkeit aneinander vorbei. Keine der beiden Seiten ist die eindeutig bessere. Als ich an der Bushaltestelle sitze, gehen einige palästinensische Schulkinder, Jungen und Mädchen, an uns vorbei und schneiden dem alten Juden neben mir Grimassen und rufen unschöne Dinge. Ein bewaffneter Siedler fährt mit einem Golfplatzmobil durch die Gegend, als würde er auf Patrouille fahren. Die Soldaten an ihrem kleinen Stand schauen nur desinteressiert zu. Ein Junge geht zu einem der Uniformierten und zerrt an einem Gummigurt, den dieser in der Hand hält. Der israelische Soldat ist sichtlich genervt, verkneift sich aber alles, was später irgendwann mal auf Youtube erscheinen könnte. Der Junge zieht weiter. Er hat heute den Helden gespielt und ist im Ansehen bei seinen Freunden garantiert gewachsen.
Und ich warte, dass endlich der Bus mit seinen Panzerglasscheiben kommt, der mich aus diesem unseligen Ort wieder fortbringt.