Dienstag, 31. Dezember 2013

Jahresabschlussgruß

Es ist Zeit zurückzublicken. Gleich mache ich mich zur Silvester-Party eines Kommilitonen auf. Er hat mir versichert, es gebe dort ein reichhaltiges Buffet. Ich werde einen guten Remstäler Wein, eine Packung krebserregender Chips und einige Kilogramm Sprengmittel aus meinem persönlichen Vorrat beitragen. Aber bevor ich mich anziehe, um diesem Jahr 2013 den Rücken zu kehren, denke ich an die letzten 12 Monate zurück. Es war ein gutes Jahr, alles in allem. Es war ereignisreich wie jedes Jahr – oder zumindest jedes vierte. Wir hatten eine mega-spannende Bundestagswahl mit wenig überraschendem Ergebnis. Uns wurde zu Weihnachten eine schwarz-rote GroKo geschenkt. Die Liberalen sind nicht mehr im Parlament vertreten, was eigentlich erschreckend ist. Dafür ist die AfD draußen geblieben, was wiederum beruhigend ist. Europas Zusammenwachsen ist nicht mehr aufzuhalten. Vor allem jetzt, wo die NSA-Affäre so viel Skepsis zwischen die Europäer und ihre transatlantischen Freunde gesät hat. Doch ansonsten ist alles wie immer. Der NSU-Prozess gegen die verbliebenen Nazi-Terroristen geht weiter, der Verfassungsschutz hat eine neue Aufgabe bekommen: In Syrien kämpfen 200 deutsche Dschihadisten und verteidigen ihre Glaubensideale gegen… ja, gegen was? Im Gegensatz dazu wissen wir ganz genau, was wir am Hindukusch verteidigen. Hoffe ich mal. Zu verteidigen gibt es so viel. Und die neue Ministerin in diesem Resort heißt Ursula. Eine der vielen Überraschungen der letzten Monate. Unterdessen verhandelt man munter mit den Iranern, während Netanjahu tobt. Der israelische Premierminister hat aber zum Glück noch andere Sorgen: Er muss an einem (erneuten) Friedensprozess gegen die Palästinenser teilnehmen. China kauft Afrika auf, Putin reitet barbusig auf Drachen und jagt Bären. Und alles freut sich auf die nächste Fußballweltmeisterschaft in Brasilien. Oh, und auf die in Katar erst.

Da wird’s einem nie langweilig.

Und jetzt wünsche ich meinen Lesern einen angenehmen, hoffentlich nicht so schmerzhaften Rutsch ins neue Jahr, sende schon jetzt herzlichste Neujahrswünsche und veröffentliche diesen Beitrag, ohne ihn noch einmal gelesen zu haben. Die Zeit drängt, der Bus wartet nicht. Wir sehen uns auf der anderen Seite – des Kalenders. ;)

Ich wünsche Euch alles Gute! :)

Nachruf für die Verstorbenen von 2013

Wie jedes Jahr sind auch 2013 viele große und kleine, bedeutende und bewegende Menschen von uns gegangen. Jetzt ist es an der Zeit, sich noch einmal an sie zu erinnern.

Unter den Toten dieses Jahres sind auch Menschen, die in Politik und Gesellschaft viel gewirkt haben. Margaret Thatcher (1925), die „Eiserne Lady“ und erste weibliche Premierministerin Großbritanniens, starb am 8. April. Ihr politisches wirtschaftliches und kulturelles Vermächtnis ist in ihrer Heimat sehr umstritten, doch sie gehört mit Sicherheit zu denjenigen Menschen des 20. Jahrhunderts, die etwas bewegt haben.
Am 5. März starb Hugo Chávez (1954), der amtierende sozialistische Staatspräsident von Venezuela. Auf politischer Ebene war er eine sowohl kontroverse als auch oft bewunderte Persönlichkeit.
Ein Schock für die Niederlande war das frühe Ableben von Prinz Friso (1968), dem zweiten Sohn der inzwischen abgedankten Königin Beatrix. Er war bei einem Lawinenunfall 2012 so schwer verletzt worden, dass er ins Koma fiel und am 12. August 2013 starb. Einen Tag später starb Lothar Bisky (1941), linker Europapolitiker und eine der bedeutenden Führungspersönlichkeiten der PDS bzw. der Linkspartei.
Am 5. Dezember starb der hochbetagte Nelson Mandela (1918), der unter dem Namen Madiba bis heute ganz Südafrika bewegt. Als Aktivist gegen die Apartheidpolitik in seiner Heimat verbrachte er 27 Jahre seines Lebens im Gefängnis, 1990 wurde er freigelassen und wurde im Jahr darauf Präsident von Südafrika. Im Jahr 1993 erhielt er den Friedensnobelpreis. Mandela war Visionär eines versöhnten und vereinigten Afrikas und hatte Vorbildfunktion in der Politik, aber auch für Millionen von Menschen. Zu seinem Begräbnis reisten 80 Staatsoberhäupter aus aller Welt an.


Otfried Preußler (1923) schenkte den Kindern Bücher wie Der Räuber Hotzenplotz oder Die kleine Hexe und prägte somit ganze Generationen. Seine Werke wurden in 55 Sprachen übersetzt. Preußler starb am 18. Januar.
Auch der Publizist und einflussreichste deutschsprachige Literaturkritiker, Marcel Reich-Ranicki (1920), verließ uns für immer. Er hatte das Ghetto von Warschau überlebt und prägte mit dem Literarischen Quartett im ZDF von 1988 bis 2001 das Leseverhalten so manches an guten Büchern interessierten Bücherwurms. Den Deutschen Fernsehpreis zu Ehren seines Lebenswerkes nahm er nicht an („Ich nehme diesen Preis nicht an!“) und sorgte für einen Eklat vor laufenden Kameras. Reich-Ranicki starb am 18. September in Frankfurt am Main und hinterlässt eine große Lücke in der deutschen Literaturkritik.
Am 17. November starb eine weitere Literaturgröße: Die im Iran geborene britische Schriftstellerin Doris Lessing (1919) erhielt 2007 den Literatur-Nobelpreis, worüber sich Reich-Ranicki seinerzeit enttäuscht zeigte. Andere Kritiker bezeichnen Lessing als eine der großen Frauen der englischen Literatur des 20. Jahrhunderts.

Unter den Toten des Jahres 2013 waren auch Erfinder und Pioniere. Zu ihnen gehörte der Entwickler der AK-47, Michail T. Kalaschnikow (1919), der 2006 anlässlich einer UNO-Konferenz zum Thema Kleinwaffen in einer Erklärung „Bestürzung“ darüber äußerte, „dass gerade seine Gewehre überall auf der Welt so viel Unheil anrichteten“. Er kritisierte zudem das Fehlen einer wirksamen internationalen Kontrolle des Waffenhandels. Am 23. Dezember starb er in Ischewsk.

Einige Persönlichkeiten haben uns aber auch jahrelang gut unterhalten. Dieter Hildebrandt (1927) war über Jahrzehnte eine Konstante des deutschen politischen Kabaretts und leitete von 1980 bis 2003 die von ihm begründete Sendung Scheibenwischer. Er starb am 20. November in München.
Paul Walker (1973) war als Brian O’Conner aus der Fast-and-Furious-Filmreihe sowie aus weiteren Actionfilmen und Thrillern bekannt. Sein plötzlicher Tod durch einen Autounfall am 30. November versetzte die Filmbrache in Schock.

Am 31. Dezember ist die Zeit gekommen, jener Persönlichkeiten zu gedenken, die in diesem Jahr von uns gegangen sind. Das nächste Jahr wird ohne sie mit Sicherheit ärmer sein.

"Lieber überwacht als tot"

2013 war das Jahr der Enthüllungen. Im Juni geriet mit den Aufdeckungen des Guardian-Journalisten Glenn Greenwald eine Lawine ins Rollen: US-Geheimdienste würden mit Hilfe des Programmes PRISM die weltweite Internetkommunikation überwachen können, noch umfassender sei das britische Überwachungsprogramm Tempora, berichtete eine zunächst anonyme Quelle.
Diese anonyme Quelle trat am 9. Juni in Person von Edward Snowden, einem ehemaligen technischen Mitarbeiter des US-Geheimdienstes NSA, in Hongkong vor die Öffentlichkeit. Für ihn begann eine Odyssee, die am Flughafen von Moskau mit einem Antrag auf politisches Asyl in Russland endete.

CSU: "Wer betrügt, der fliegt!"

„Wer betrügt, der fliegt!“ – Das ist die Devise der CSU, die pünktlich zum Jahreswechsel den Europawahlkampf einleitet. Ab dem 1. Januar ist es Rumänen und Bulgaren erlaubt, uneingeschränkt nach Deutschland zu ziehen, um dort zu arbeiten. Die bayrische Partei, die vielen Deutschen aus der Seele spricht, befürchtet eine unnötige Belastung der deutschen Sozialsysteme und will deshalb generell einen härteren Kurs gegen Zuwanderer aus Osteuropa beschließen.

Donnerstag, 12. Dezember 2013

Kritik zu "Das Jerusalem-Syndrom" (2013)

Am Mittwoch (11.12.2013) lief um 20:15 Uhr in der ARD ein neuer Fernsehfilm, der den verheißungsvollen Titel „Das Jerusalem-Syndrom“ trug. Dahinter verbirgt sich eine Art Familiendrama, in dem eine junge Frau mit Namen Maria in die Fänge einer uralten Sekte gerät, für die sie den neuen Erlöser der Welt austragen soll. Ihre Schwester Ruth macht sich unterdessen (widerwillig) auf, um die schwangere Maria, die vor der Grabeskirche schon einen toten Touristen zum Leben erweckt hat, zu retten. Ruth stellt Ermittlungen an: Sie misstraut der Sekte, sie fährt mit einem Arzt aus der Spezialklinik durch die Gegend, ein dicklicher Reiseführer namens Eyal wird erschossen. Die Polizei ist desinteressiert, doch Ruth stößt auf Ungeheuerliches: Am Tag der Geburt ihres Neffen würden alle „Ungläubigen“ aus Jerusalem hinweggefegt und ein Feuer würde die Welt erfassen – so kündigt es zumindest der Sektenführer in einem „Hassvideo“.

Samstag, 9. November 2013

Gedanken zum 9. November

Der 9. November ist ein geschichtsträchtiges Datum für Deutschland und auch für Europa. Eigentlich ist er das schon immer gewesen. Am 9. November 1848 wurde der Publizist und demokratische Politiker Robert Blum in Wien hingerichtet. Die Märzrevolutionen, die bis nach Österreich übergeschwappt waren, brachten noch keinen Durchbruch der Demokratie. Den historischen 9. November kennen wir aber spätestens seit dem Jahr 1918, als die Demokratie den ersten Etappensieg einfuhr: Am 9. November rief Philipp Scheidemann vom Westbalkon des Reichstages in Berlin die Republik aus. Der Krieg war zu Ende, Deutschland schaffte seine Monarchie ab. Diese erste Republik konnte sich jedoch nicht etablieren und mündete in das Dritte Reich. Zwanzig Jahre nach Einführung der Demokratie brannten im ganzen Land die Synagogen. Inszenierter Volkszorn, SA-Männer in Zivil und Uniform – und ein Volk, das zuschaute. Ein Jahr später gab es Krieg. Deutschland versetzte Europa um Jahrzehnte zurück, Armeen hinterließen verbrannte Erde, Elend und Massengräber. Der Neuanfang teilte das Land, oder vielmehr die Welt in Ost und West. Grenzzäune und Mauern hatten vierzig Jahre lang Bestand. Heute ist es nun 24 Jahre her, dass man eine Regelung beschlossen hatte, welche DDR-Bürgern den Grenzübertritt ermöglichte. Nachdem Kohl und Gorbatschow schon Hammer und Meißel an den bröckelnden Beton angelegt hatten, brachte Günter Schabowski vom SED-Politbüro die Mauer vollends zum Einsturz. Er musste dem Druck der Straße weichen – und wahrscheinlich auch dem Druck der Diplomaten, der Wirtschaft – oder dem Druck der Geschichte. Seitdem hat der 9. November ein wenig sein negatives Image aufpoliert, das ihm die Schande der Reichspogromnacht auferlegt hatte. Heute ist er gleichermaßen ein Mahnmal für die dunklen und die fröhlichen Tage der Geschichte. Übrigens, der 9. November 1993 war der Tag, an dem die alte Brücke von Mostar im Bosnienkrieg zum Einsturz gebracht wurde. Dieser Tag im Herbst, der sich alle Jahre wiederholt, mahnt, wenn man so will, für die Zukunft. Brücken und Mauern sind starke Symbole. Denn auch heute noch werden Völker von Mauern getrennt, denken wir nur einmal an Israel und die Palästinenser. Mauern und Trennzäune sind selten etwas Gutes, auch wenn sie zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich bewertet werden.
Eigentlich sollten wir Brücken bauen und Mauern einreißen, nicht andersrum.

Montag, 4. November 2013

Desilussionierung

(Presseschau)

Zur deutsch-amerikanische Freundschaft nach der NSA-Affäre habe ich im August 2013 einen Kommentar von Jens Jessen in der ZEIT gefunden. Damals war die Überwachung des Merkelschen Kanzlerhandys noch nicht bekannt, das Fazit war aber dasselbe:

"Wir brauchen [...] eine Desillusionierung über den Charakter unserer Beziehung. Das Gerede von Freundschaft muss ein Ende haben und der nüchternen Einsicht in gegenseitigen Nutzen und gemeinsamen Interessen weichen - und zwar dort, wo sie wirklich bestehen. [...] Übrigens wäre es auch aus pädagogischen Gründen hilfreich, wenn sich Deutschland emotional von Amerika etwas abnabeln würde. Das Land, nun schon seit zwei Jahrzehnten in die volle Selbstständigkeit entlassen, muss lernen, auch sicherheitspolitisch, auch in der Terrorabwehr auf eigene Verantwortung zu handeln. Selbstverständlich im Bündnis mit den USA, selbstverständlich als loyaler Verbündeter und gerne auch etwas großzügiger und weniger ängstlich als in der Vergangenheit. Aber als erwachsener Partner und nicht als alter Säugling, der noch immer nach der Mutterbrust greift und wehklagt, wenn Mama mal was anderes zu tun hat oder sich über das Quengeln des kleinen Schreihalses kalt hinwegsetzt."

Stimmen zur NSA-Affäre (aus dem FOCUS)

(Presseschau)

In seiner aktuellen Ausgabe hat der FOCUS (44/2013, S. 34f) einige unterschiedliche Stimmen zur NSA-Ausspähaffäre aufgefangen, die von Empörung, Vertrauensbruch, aber auch von Naivität sprechen.

Viviane Reding, EU-Kommissarin für Justiz, Grundrechte und Bürgerschaft, spricht von einem Weckruf: „Muss denn erst Frau Merkels Handy angezapft werden, damit sich führende Politiker in Europa darüber klar werden, dass solche Datenskandale jeden Tag, jede Minute geschehen können?
Wolfgang Ischinger, ehemaliger deutscher Botschafter in den USA, prangert jedoch die Blauäugigkeit der Europäer an. Schon während seiner Zeit in den USA war ihm bewusst, dass Telefone von Geheimdiensten abgehört werden. Zur Schwere der aktuellen Affäre sagt er dennoch: „Der Vorgang ist eine enorme Belastung und der größte Stresstest für die transatlantischen Beziehungen. Es ist ein großer Vertrauensbruch, und es wird nicht ganz einfach sein, das in Ordnung zu bringen. Die US-Geheimdienste sind offenbar außer Rand und Band geraten, haben Maß und Mitte verloren.
Auch Jack Janes geht auf das undurchsichtige Vorgehen der Geheimdienste ein und meint: „Wenn der Präsident tatsächlich von nichts wusste, dann frage ich mich, wer in Washington eigentlich die Hosen anhat.“ Janes, der Präsident des American Institute for Contemporary German Studies an der John Hopkins University in Washington ist, bezeichnet die Aufdeckungen als ein „Schlag in die Magengrube“ der Pro-Atlantiker.
Weniger naiv zeigt sich Charles Kupchan, ein ehemaliger Berater von Bill Clinton und Mitglied des Council on Foreign Relations. Er sagte dem FOCUS: „Dass Freunde auch Freunde ausspionieren, ist gängiges Geschäft. Auch Frau Merkel betritt morgens das Kanzleramt und bekommt erst einmal ein Geheimdienstbriefing vorgelegt, das genau aus solchen Spionageaktivitäten in Großbritannien, Frankreich oder Polen zusammengestellt wird.
Der Forschungsdirektor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, Eberhard Sandschneider, schließt sich in dieser Hinsicht an: „Wenn sich jemand wundert über die Abhöraktionen, dann wundert das wiederum mich.“ Er stellt in Hinblick auf die Beziehung zwischen Deutschland und den USA fest: „Wir sollten die deutsch-amerikanischen Beziehungen nüchterner betrachten und die USA als das sehen, was sie sind: ein Land mit eigenen Interessen. Da bleiben auch strategische Partner manchmal auf der Strecke.
Doch nicht nur die USA sind in der aktuellen Diskussion zu beschuldigen. David Hamilton, ehemaliger Europa-Experte im US-Außenministerium, gibt eine Erklärung dafür, warum US-Spione nicht alle Erkenntnisse mit ihren deutschen Kollegen teilen: „Die deutschen Geheimdienste sind so sehr von Spionen anderer Länder infiltriert, dass sich die USA nie sicher sein können, ob die ausgetauschten Informationen nicht gegen sie verwendet werden.“ Dies sei aber keine Entschuldigung dafür, das Handy der Kanzlerin anzuzapfen.
So wie Hamilton die deutschen Geheimdienste in ein eher schlechtes Licht erscheinen lässt, so stellt auch Günter Blobel, deutsch-amerikanischer Medizinnobelpreisträger, der deutschen Informationstechnologie ein Armutszeugnis aus. „Es ist nicht sehr vertrauenserweckend, dass die Merkel-Regierung nicht in der Lage ist, Firewalls in ihre Kommunikationssysteme einzubauen.

Verschiedene Stimmen, verschiedene Erkenntnisse. Doch fest steht auf jeden Fall, was auch schon vorher nie bezweifelt worden ist: Das Geschäft der Geheimdienste ist ein schmutziges. Und davon sind sowohl die der USA als auch alle anderen betroffen. Um uns zu schützen, brauchen wir neue Gesetze und Richtlinien aus Berlin und Brüssel, deren Umsetzung irgendwie garantiert werden muss. „Nur wenn Bürger und Unternehmen fest darauf vertrauen, dass Regeln eingehalten werden, wird in Europa ein echter digitaler Binnenmarkt entstehen“, sagt Viviane Reding dazu.

Samstag, 2. November 2013

Neue "Studiengebühren" für Studienanfänger in Baden-Württemberg?

Wollen die Grünen wieder Studiengebühren einführen? Ganz so heftig wird es wohl nicht kommen, aber die Planungen sehen scheinbar vor, dass einige Studierende demnächst bis zu 100 € Gebühren für Bewerbungsgespräche an Universitäten zahlen sollen. So steht es zumindest im Entwurf für ein neues Hochschulgesetz. Außerdem sollen Angebote, die nicht direkt etwas mit dem eigenen Studiengang zu tun haben – wie etwa Computer- oder Sprachkurse – kostenpflichtig werden.
Noch gibt es dazu genau eine Meldung in den Medien, deswegen lohnt es vielleicht gar nicht, großen Wirbel wegen dieses einen Gesetzentwurfs zu machen. Andererseits, manche angehenden Studierenden bewerben sich bei mehr als einer Uni. Soll man allein deshalb jetzt jedes Mal 100 € zahlen? Und ist nicht eine der großen Möglichkeiten, die das Universitätsstudium bietet, der zusätzliche und gut zugängliche Erwerb von Sprachkenntnissen und anderer Zusatzqualifikationen, ohne irgendwelche Gebühren zahlen zu müssen? Der Sprecher des Wissenschaftsministeriums, Jochen Schönmann, meinte unterdessen, dass der Vorschlag noch nicht fix sei und dass die Anhörung zu diesem Gesetzentwurf erst beginne.

Aber vielleicht sollten wir diese Sache doch mal im Auge behalten…

Universitätsstadt Tübingen

Antisemitismus in Deutschland - Zur ARD-Reportage (28.10.2013)

Am 28. Oktober 2013 gab es in der ARD eine ziemlich interessante Reportage zum Thema Antisemitismus in Deutschland heute. Um mal so viel vorweg zu nehmen: Auch wenn die kurze Beschreibung in der ARD-Mediathek anderes vermuten lässt, geht es nicht ausschließlich um muslimische Judenfeindschaft in Berlin. Die Dokumentation ist meiner Meinung nach nicht so voreingenommen, wie sie sich zunächst präsentiert. Denn vor allem dann, wenn beim Thema Antisemitismus auch der Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern angesprochen wird, ist das Risiko von Missverständnissen groß. In der Reportage geht es aber auch um viel bedeutendere Facetten: Judenhass in der bürgerlichen Mitte, Vorurteile, Klischees und abgetrennte Schweinsköpfe.

(Zur Dokumentation geht' hier.)

Natürlich ist es nicht ganz einfach, das komplette Thema in seiner Gesamtheit durch 44 Minuten Film abzubilden. Deshalb bleibt die Dokumentation nicht ganz ohne Angriffspunkte. Dass sich die Unterscheidung von (legitimer) Israelkritik und modernem Antisemitismus auf einem äußerst schmalen Grat bewegt, ist bekannt. Deutlich wird dieser Sachverhalt, als die Macher auf den Boykott von in israelischen Siedlungen hergestellten Waren eingehen. „Boykott heute und gestern“ heißt es im Hinblick auf den Boykott jüdischer Waren zu Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft in den Dreißigerjahren. Trifft dieser Vergleich wirklich zu?
Andererseits wird deutlich, auf welche Erkenntnis die Reportage beim Zuschauer abzielt: „Wenn für Juden, wenn für Israel andere Maßstäbe gelten als für den Rest der Welt – das ist Antisemitismus.“ Und damit liegen die Macher ganz richtig. Untermauert wird diese Feststellung durch aktuelle Umfragen: Etwa 38,4% der Befragten in einer Umfrage des deutschen Innenministeriums äußerten angesichts der Politik, die Israel macht, Verständnis dafür, dass man etwas gegen Juden hat – obwohl das eine mit dem anderen nicht zwangsläufig etwas zu tun hat. Sogar 40,5% der Befragten waren der Meinung, Israel behandle die Palästinenser im Prinzip so wie die Nationalsozialisten damals die Juden – eine These, über die man manchmal zu streiten versucht, die aber keiner wissenschaftlichen Betrachtung standhält.

Natürlich, es gibt zwar weder eine Italienkritik noch eine Islandkritik, aber Kritik an der Politik Israels ist mit Recht sehr wohl erlaubt. Die Bevölkerung von Gaza, einer im Nahen Osten als Hafen- und Handelsstadt seit Jahrtausenden mal mehr, mal weniger bedeutenden Metropole, leidet enorm unter der Blockade durch das israelische Militär. Die Menschen im Westjordanland brauchen wegen der Checkpoints ihrer israelischen Besatzer doppelt oder dreimal so lang auf ihrem Weg zur Arbeit, in die Schule oder ins Krankenhaus und Bauern verlieren ihre Felder an militärische Sperrgebiete und marodierende Siedler. Und bei Luftangriffen auf Hamas-Führer werden teilweise ganze Familien ausgelöscht. Das alles ist kein Geheimnis und lässt sich auch mit dem Sicherheitsbedürfnis des territorial recht kleinen israelischen Staates nicht begründen. Kritik, auch scharfe, ist erlaubt und muss erlaubt sein. Wenn man aber legitime und begründete Kritik nicht äußert mit der Begründung, man würde danach ja als Antisemit gelten, dann ist man selbst schuld, wenn diese legitime Kritik nicht erhört wird.
Die ARD-Dokumentation über modernen Antisemitismus in Deutschland spricht aber von genau denjenigen Menschen, die Israelkritik als Vorwand nehmen, um ihrem Antisemitismus Luft zu verschaffen. Und die sind immer noch erschreckend zahlreich. Viele Israelgegner sprechen im ersten Satz von unterdrückten Palästinensern und im zweiten schon von Geldgier, Weltherrschaft und mitunter auch von krummen Nasen.

Meiner Meinung nach sollte man die Themenblöcke Antisemitismus und Nahostkonflikt oft auch getrennt betrachten. Zwar unterliegen beide Schlagworte einer starken gegenseitigen Beeinflussung, doch das ist nur die halbe Wahrheit. Wenn man die Fülle und Komplexität beider Themen ausschließlich unter dem Vorzeichen dieser Beeinflussung betrachtet und das eine auf das andere zurückführt, übersieht man auf beiden Seiten unendlich viele andere, durchaus bedeutendere Faktoren, deren Vernachlässigung gravierende Folgen haben kann. Der Antisemitismus ist in Deutschland immer noch verwurzelt, wie auch anderswo in Europa.

Die ARD-Reportage ist auf jeden Fall sehenswert und informativ. Man sollte sie unvoreingenommen bis zum Ende anschauen, denn wer will, wird schon nach den ersten Minuten einen Grund zum Einspruch finden – egal welche Meinung er vertritt, denn das hat dieses Thema nun einmal an sich.

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Anmerkungen zum Wort Antisemitismus

Für alle Besserwisser: Ich weiß natürlich, dass „Antisemitismus“ nicht wörtlich „Judenhass“ bedeutet. Zu den „Semiten“ gehören schließlich auch die Araber, obwohl ich glaube, dass weder die einen noch die anderen wirklich von jenem Sem, dem Sohn Noahs, abstammen. Ich schließe mich deshalb dem Duden an, der Antisemitismus offiziell definiert als „Abneigung oder Feindschaft gegenüber den Juden“. 

Freitag, 25. Oktober 2013

Gedanken zu Europa

„Es gibt in Deutschland keine millionenfache Grundrechtsverletzung.“ – Das waren die Worte von Kanzleramtsminister Ronald Pofalla am 12. August, mit denen er die NSA-Affäre für beendet erklärte. Die damals bestehenden Vorwürfe waren es scheinbar nicht wert, dass man groß über sie diskutieren wollte. Außerdem war Wahlkampf und das Thema war schneller vom Tisch als die NSA „Snowden“ buchstabieren kann. Da wirkt es irgendwie befremdlich, dass nun eine einzige Grundrechtsverletzung für so viel Wirbel sorgt. Gut, zuvor waren ja „nur“ die Bürger ausgespäht worden, jetzt allerdings geht es um die Verletzung unserer Souveränität in Gestalt von Angela Merkel. Der US-Geheimdienst soll sich virtuell auf dem Handy der Kanzlerin umgesehen haben und erntet nun Kritik, strenge Worte und heftige, aber irgendwie hilflose Bestürzung. Auf dem EU-Gipfel in Brüssel stehen die Politiker Europas mit der starken Frau aus Deutschland Schulter an Schulter. Merkel verkündet, dass es nicht mehr nur um gute Worte ginge, sondern um wirkliche Veränderungen. Auch in den USA regt sich mittlerweile Widerstand gegen die neugierigen Augen der Obrigkeit. Es ginge nicht an, dass ein Staat seine Bürger ausspioniere, heißt es auf einem von Hollywood-Stars veröffentlichten Video. „In einem Überwachungsstaat ist die Demokratie tot“, sagt Schauspieler John Cusack warnend in die Kamera. Allerdings ist in den US-amerikanischen Widerstandsnestern meist nur die Rede von den eigenen citizens. Auf der anderen Seite des Großen Teichs sorgt sich kaum jemand um das Wohl der europäischen Verbündeten. Die Geheimdienste der USA verteidigen die Souveränität Amerikas – politisch, militärisch und auch wirtschaftlich. Wenn sie dabei sogar die Rechte ihrer eigenen Schützlinge übergehen, wie egal müssen ihnen dann die unseren sein?

War die Bundesregierung die ganze Zeit zu naiv? Auf jeden Fall. Hätte man von Anfang an aus der Wartehaltung herausrücken und Klartext reden sollen? Sicherlich. Doch wahrscheinlich war die Bundesregierung – wie die meisten Regierungen – zu verunsichert, zu überfordert und möglicherweise zu schwach.
Doch was würde es ändern, wenn wir Obama nur aufforderten, seine NSA endlich unter Kontrolle zu bekommen, und auf irgendwelche Abkommen drängten, die in der Welt der Geheimdienste lediglich beschriebenes Papier ohne nennenswerten Inhalt darstellten? Am Ende wäre der durchschnittliche Europäer, ob er jetzt Leichen im Keller oder Bomben in der Garage hat, genauso transparent einsehbar wie im Moment. Um die Wahrung unserer Rechte zu garantieren, müssen wir anders reagieren – nicht nur als einzelne Nationalstaaten, sondern als starkes, geeintes Europa.

Europa braucht eine transnationale Souveränität – heute mehr denn je

Heute Morgen hat der SPD-Politiker Martin Schulz bei Beckmann einen interessanten Aspekt angesprochen, den ich aufgreifen und gegebenenfalls erweitern möchte: Ein Land wie Malta hätte heute keine Chance, den USA auf Augenhöhe begegnen zu können. Selbst ein größerer Staat wie Deutschland hat diese Chance nur noch scheinbar, meinte er. Was Europa brauche, sei eine transnationale Souveränität.
Und damit hat er Recht. In der Realität müssen auch wir kuschen, wenn es hart auf hart kommt. Mit unseren amerikanischen Freunden verbindet uns zwar vieles, aber kaum jemand kann ihnen bei politischen Streitthemen auf gleicher Höhe begegnen. Angelegenheiten wie die aktuelle Ausspäh-Affäre sind nur ein weiterer ein Beweis dafür. Solange die europäischen Staaten sich eher voneinander entfernen als sich anzunähern, haben wir keinen sicheren Stand auf dem Weg in die Zukunft. Ob Malta, Rumänien, Deutschland oder Frankreich – wir schaffen es nur gemeinsam. Einzeln betrachtet sind wir ein Flickenteppich von Nationalstaaten, von denen alle einer oft widersprüchlichen Politik folgen. Dies hat es den USA in der Vergangenheit zu oft ermöglicht, sich seine Verbündeten gezielt herauszupicken. Als es beispielsweise 2003 gegen den Irak ging, wurden Deutschland und Frankreich kurzerhand als das „alte Europa“ deklariert. Das „neue Europa“ (Polen) hingegen bekam das Oberkommando über eine der Besatzungszonen südlich von Bagdad.

Mehr denn je befindet sich Europa heute in einer Krise. Der Euro wackelt bedenklich, die Skeptiker scheitern selbst in Deutschland nur noch knapp an der 5-Prozent-Hürde. Nach der totalen Zerstörung 1945 hatten Adenauer und De Gaulle eine Vision, heute dagegen ziehen die ersten wieder den Schwanz ein. Doch ist uns überhaupt klar, was wir mit unserer Skepsis aufs Spiel setzen? Wir sind nur als geeintes Europa überlebensfähig – sowohl politisch als auch wirtschaftlich. Wenn wir auch nur anfangen mit dem Gedanken zu spielen, das Projekt Europa für gescheitert zu erklären, dann haben wir bereits verloren. Wenn wir uns wieder zersplittern, um danach innerhalb der eigenen, dichten Grenzen – geografisch wie kulturell – vor uns hin zu vegetieren, finden wir uns dort wieder, wo wir am Beginn des 20. Jahrhunderts schon waren, während die Konkurrenz schon darauf wartet, uns aufzukaufen. Aus Angst vor zu viel Europa suchen wir uns verzweifelt die letzten deutschen Werte zusammen, mit denen wir uns identifizieren können, und pflegen sie dann, ohne sie zu leben, ausgestellt und ausgestopft wie in einem Museum. Und dieses Museum schützen wir vor jungen, arbeitswilligen und überdies schutzbedürftigen Asylsuchenden, aus Angst vor Überfremdung und vor allem aus Angst um unser Geld.
Doch wie kann man von einem Bürger oder einer Bürgerin erwarten, Asylbewerber als gleichwertige Individuen zu betrachten, wenn er oder sie doch sogar gegen diejenigen noch Vorurteile hegt, die schon seit vierzig Jahren hier leben? Oder gar gegen europäische Nachbarn wie Franzosen oder Italiener? Während die einen über Europa fantasieren und den Blick für den Alltag verloren haben, denken die anderen immer noch, Deutschland sei ein autarker Organismus, der ohne Zuwanderung auskommt oder sich gegen diese gar zu schützen hätte. Beide Gruppen reden aneinander vorbei und entfernen sich voneinander. Und irgendwann blockiert der eine den anderen. Europa droht immer wieder an unserer eigenen Engstirnigkeit zu scheitern, in Berlin genauso wie in London oder Brüssel. Dabei bietet der Gedanke Europa jedem die Chance, sich einzubringen und Dinge zum besseren zu verändern. Da diese Chance jedoch zu selten eingefordert und gelebt wird, gerät sie immer mehr in Vergessenheit und wird mit der Zeit so irrelevant, dass sie als Möglichkeit zu bestehen aufhört.

Einheit in Vielfalt

Wir sind nicht die USA, heißt es. Die „Vereinigten Staaten von Europa“ seien eine Illusion. Viel zu vielseitig seien die europäischen Länder, viel zu verschieden. – Doch wollen wir so werden wie die USA? Der Große Bruder sollte seine Vorbildfunktion schon lange verloren haben. Wir wollen nicht so oberflächlich und blind vor Patriotismus sein wie unsere westlichen Nachbarn. Trotzdem ist ein vereintes Europa möglich. Unterschiede und Differenzen sind nur faule Ausreden, um sich der Herausforderung zu entziehen.
Es gibt ein Land im Süden Asiens, das sich den Grundsatz „Einheit in Vielfalt“ seit jeher zur Devise gemacht hat. Indien ist die bevölkerungsreichste Demokratie dieser Erde und ein Land, das 28 Bundesstaaten und 23 offizielle Sprachen in sich vereint. Obwohl Hindi die Amtssprache ist, wird es von kaum jemandem im Süden des Landes verstanden. Indien ist so groß, dass es von London bis Moskau reichen würde und vom Süden Norwegens bis nach Tunesien. Die Menschen sind topmotiviert und erfüllt von einem uns ungewohnten Nationalstolz, der auch vom gewaltigen wirtschaftlichen Aufschwung der letzten Jahre herrührt.
Dieses Land hat noch sehr große Probleme, viele Menschen leben in Armut, die Slums sind überfüllt. Wahrscheinlich findet man dutzende Gründe, weshalb man Indien nicht mit Europa vergleichen kann. Und doch ist es ein Land, das genauso viele Staaten in sich vereint wie die EU, in denen sich Menschen in fast genauso vielen verschiedenen Sprachen unterhalten, unter einer gemeinsamen Flagge.

Europa steckt in einer Krise, die mit dem Euro begann und bei Bürgerrechtsverletzungen noch nicht zu Ende ist. Oft mangelt es am gemeinsamen Kurs, der an großen Meinungsverschiedenheiten scheitert. Doch das Projekt Europa ist noch nicht zu Ende, es steht vielmehr am Anfang einer Erneuerung. Es wird noch Jahrzehnte dauern, bis sich jeder Deutsche mit dem Gedanken einer europäischen Einheit anfreunden kann oder bis ein Ungar seine Vorurteile gegen einen Rumänen abbaut. Doch wir haben keine andere Wahl als flexibel, offen und nachhaltig zu agieren, wenn wir unser Ansehen, unsere Werte, unseren Frieden und vor allem unseren Wohlstand auf lange Dauer wahren wollen. Um unsere europäische Freiheit zu sichern, müssen wir einen Teil unserer nationalen Souveränität aufgeben und der Verantwortung der europäischen Allgemeinheit anvertrauen. Erst eine transnationale europäische Souveränität bringt uns mit den Großen der Welt endgültig auf Augenhöhe. Zusammen bilden wir mit knapp 507 Millionen Einwohnern den größten Binnenmarkt der Erde und einen verlässlichen Partner. Nur geschlossen könnten wir uns dauerhaft behaupten gegen aufstrebende Wirtschaftsriesen wie China oder Indien – und gegen Menschenrechtsverletzungen auf eigenem Territorium, durch die eigenen, übermächtig erscheinenden Freunde in Washington.


Dienstag, 22. Oktober 2013

Der Fall Florian H.

„Bad Cannstatt: Aus bislang ungeklärter Ursache ist am Montagmorgen (16.09.2013) gegen 09.00 Uhr an der Mercedesstraße ein Peugeot in Brand geraten.“ – So beginnt die Pressemitteilung des Polizeipräsidiums Stuttgart. Ein Zeuge habe Rauchentwicklung bemerkt und das brennende Auto entdeckt. Der Insasse des Wagens sei verbrannt.
In den folgenden Wochen sorgte der Fall des 21jährigen Florian H. aus Eppingen (Landkreis Heilbronn) für Wirbel, aber nicht für die wirklich großen Schlagzeilen. Dabei ist der Sachverhalt äußerst interessant: Ein Aussteigewilliger aus der rechten Szene wird als Zeuge vernommen, zum NSU und seinem Bezug zu Baden-Württemberg. Dabei erwähnt er auch eine bisher unbekannte Gruppierung, die NSS („Neoschutzstaffel Öhringen“). Und genau an dem Tag, an dem er zum zweiten Mal an einem geheimen Ort in Stuttgart vor den Ermittlern des Landeskriminalamtes aussagen soll, verbrennt er in seinem Auto, in der Nähe des Canstatter Wasens, um 9.00 Uhr morgens. Angeblich auf der Zufahrt desselben Campingplatzes, auf dem sich schon die drei NSU-Terroristen aufgehalten haben sollen. Die Polizei stellt Suizid als Todesursache fest, der Fall wandert zu den Akten.

© 7aktuell
Vielleicht war es ein Selbstmord. Vielleicht hielt Florian H. dem Druck nicht mehr Stand. Und doch, es bleiben einige Merkwürdigkeiten bestehen. Der junge Mann hinterließ keinen Abschiedsbrief, obwohl das Motiv laut dem Stuttgarter Polizeisprecher Thomas Ulmer „im Bereich einer persönlichen Beziehung liegen“ würden. Zumindest ungewöhnlich. Die Mutter des Toten sagt: „Florian war ein sehr lebenslustiger und kritischer Mensch. Er hatte so viele Träume, Wünsche und Ziele. Wer ihn gekannt hat, geht nicht von einem Suizid aus.“ Er hatte außerdem noch einige Termine. Am Tag seines Todes hätte H. eine neue Stelle als Lehrling bei einer Baufirma antreten sollen – und er hatte um 17.00 Uhr einen Termin mit der Polizei.
Schon vor Bekanntwerden der NSU-Morde sprach H. angeblich von einem rechtsextremistischen Hintergrund des Mordes an der Polizistin Michèle Kiesewetter in Heilbronn. Man hielt ihn für einen Wichtigtuer, bis die Terrorgruppe aufflog. Später erwähnte H. die NSS Öhringen und bezeichnete sie nach dem „Nationalsozialistischen Untergrund“ als zweitradikalste Gruppe in Deutschland. Es habe sogar ein Treffen zwischen den beiden Gruppierungen gegeben, behauptet er. Auch jetzt hielt man ihn für größenwahnsinnig, weil er sich bei den Aussagen in Widersprüche verstrickte. Er hatte behauptet, den Polizistenmörder zu kennen, konnte bei der Vernehmung jedoch keine Namen nennen.
Dann drängt das LKA nach Monaten plötzlich auf ein erneutes Treffen. Zwischen dem ersten Termin im Januar 2012 und der zweiten, nicht mehr stattgefundenen Befragung lagen mehr als eineinhalb Jahre. Egal, was Florian H. aussagen sollte, er kam nicht mehr dazu. Entweder hat er es selbst verhindert – und dann stellt sich die Frage nach dem Warum – oder er ist verhindert worden. Dabei trennten den Ort, an dem er angeschnallt, in aufrechter Sitzposition und 50 Kilometer von seinem Heimatort entfernt starb, nur 700 Meter vom Landeskriminalamt. Die Stuttgarter Polizei bestreitet zudem nicht, dass es am Ort des Suizids eine Explosion gegeben habe. Allerdings seien auch Spuren von Brandbeschleunigern gefunden worden. Wollte H. den beiden NSU-Terroristen Böhnhardt und Mundlos nacheifern, die ebenfalls vor ihrem Tod das eigene Auto in Brand setzten? Man weiß es nicht. Man könnte aber durchaus in dieser Richtung weiter ermitteln. Doch die Polizei ermittelt nicht weiter.

Sind die zahlreichen Ungereimtheiten nur Zufall? Vielleicht. Doch wie oft haben sich – gerade im Zusammenhang mit dem NSU – viele gemutmaßten Zufälle als fatale Irrtümer und Fehleinschätzungen erwiesen? Es bleiben auf jeden Fall noch eine Menge Fragen offen. Vielleicht würde es sich lohnen, in Baden-Württemberg einen eigenen NSU-Untersuchungsausschuss einzurichten, um Licht hinter all die Zusammenhänge zu bringen.

Ein Informant beschrieb H. dem Schwäbischen Tagblatt zufolge als labil. Und trotzdem meint er: „Mein erstes Gefühl sagte mir, jetzt haben sie ihn doch noch gekriegt.“

Sonntag, 20. Oktober 2013

Die "Reichsbürger"-Bewegung (Teil 4)

(Teil 4 meiner Rechtsextremismus-Reihe 2013)

Das „Deutsche Polizei-Hilfswerk“ (DPHW)

Im Gegensatz zu den meisten Begriffen sagte mir das sogenannte „Deutsche Polizei-Hilfswerk“ überhaupt nichts, als ich zum ersten Mal davon hörte. Beim näheren Hinschauen war ich aber zumindest beunruhigt.
Zwar melden Internet-Quellen, dass sich das DPHW schon im Juni aufgelöst hätte, doch die offizielle Homepage der Organisation sagt etwas anderes. Dort wird immer noch Werbung gemacht.

Werbeplakat des DPHW
Was ist das DPHW? – Die Mitglieder der Organisation verstehen sich als eine Art Bürgerwehr, in der natürlich nicht nur groß gewachsene, blonde Germanen willkommen sind. Wie die meisten ihrer Art zeigt sich auch diese Gruppe offen für alle Bürger. Das DPHW will „Lücken schließen“, die durch mangelnde Polizeipräsenz entstanden sind. Recht und Ordnung sollen durchgesetzt werden, Gesetzesverstöße werden „durch öffentliches Einschreiten“ abgestellt, heißt es auf der DPHW-Website. „Die Nachbarschaftshilfe und das menschliche Miteinander sollen dabei wieder in den Vordergrund gerückt werden.“ Man könnte es auch organisierte Selbstjustiz nennen.
Beispielhaft ist ein Vorfall vom November 2012:

Die Hilfspolizisten in Uniform gerieten den Ermittlern ins Visier, als sie am 23. November des letzten Jahres einen Gerichtsvollzieher in Bärwalde bei Meißen festnahmen, als dieser dort Schulden eintreiben wollte. Die Amtsperson musste von der richtigen Polizei befreit werden. Der Mann ist seither krank. Offensichtlich ist das kein Einzelfall. Mehrfach versuchte das Polizeihilfswerk, die Vollstreckung von Geldforderungen zu verhindern. Am 11. Oktober in Sonneberg: Hier musste die echte Polizei eingreifen, weil Mitglieder des DPHW den Chef des Finanzamts bedrängten. Und am 29. November wurde die echte Polizei in Weimar gerufen, weil Uniformierte des DPHW eine Gerichtsvollzieherin festnehmen wollten. Gegen sieben Beschuldigte wird nun ermittelt.
(Quelle: Exakt/MDR)

Das DPHW hat – wie auch z.B. der „Freistaat Preußen – eine überraschend gut organisierte Internet-Präsenz. Die Homepage macht einen vertrauenserweckenden Eindruck – auf den ersten Blick. Pressesprecher dieser Miliz ist Holger Fröhner, der in seinen weitgehend unbekannten Büchern (Die Jahrhundertlüge) ideologisch betätigt und im März 2013 von Fahndern des Operativen Abwehrzentrums Rechtsextremismus festgenommen wurde.
Derzeitiger Vorstand des DPHW ist Volker Schöne, der sich ebenfalls in Presseerklärungen der Organisation zu Wort meldet. Dort wirft er mit Zitaten von Mahatma Gandhi um sich, doch auf seiner privaten Homepage verweist er auf vaterländische Rechtsrock-Lieder wie z.B. „Wenn der Wind sich dreht“ von Faktor Widerstand.

Diese Selbstdarstellung des DPHW soll darüber hinwegtäuschen, dass es
sich bei der Bürgerwehr um einen Verein rechter Macht-Junkies handelt.
Das DPHW ist eine polizeiähnliche Organisation mit rechtsextremem Hintergrund – wer findet das noch beunruhigend? Was noch beunruhigender ist: Man weiß zu wenig über solche rechten Umtriebe. Das zu ändern war meine Intension, als ich diesen Blogeintrag geschrieben habe.

Fazit

Sollten bei einigen meiner Leser Zweifel an der Existenz der Bundesrepublik aufkommen, möchte ich zum Schluss auf eine Erklärung des Amtsgerichts Duisburg aus dem Jahr 2006 verweisen:

„Das Deutsche Reich in seiner historischen Gestalt ist spätestens mit der bedingungslosen Kapitulation aller Streitkräfte vom 7. und 8. Mai 1945 institutionell vollständig zusammengebrochen. Seine damals noch vorhandenen Organe und sonstigen staatsrechtlichen Strukturen sind im Mai 1945 auf allen Ebenen endgültig weggefallen, an ihre Stelle sind in den folgenden Jahren, zuletzt durch die deutsche Wiedervereinigung vom 3. Oktober 1990, neue, durch allgemeine Wahlen historisch und rechtlich uneingeschränkt legitimierte Strukturen getreten.“

Eine etwas knappe Erklärung, die sich jedoch weitgehend mit anderen Gerichtsurteilen deckt – und mit dem gesunden Menschenverstand.

Samstag, 19. Oktober 2013

Die "Reichsbürger"-Bewegung (Teil 3)

(Teil 3 meiner Rechtsextremismus-Reihe 2013)

Stellen die „Reichsbürger“ eine Gefahr dar? Was steckt hinter ihrer Ideologie?

Nach außen hin stecken hinter den Ideologien meist nur Landkarten von 1937 und uralte, preußische Gesetze, doch hinter vielen der Namen verbergen sich großkalibrige, rechte Persönlichkeiten. Und diese Persönlichkeiten wollen dem deutschen Volk zu seinem Recht verhelfen, sich selbst zu regieren, denn sie lehnen die gewählten Volksvertreter der Bundesrepublik ab. Neben Esoterikern und missverstandenen Freigeistern finden sich in den Reihen der „Reichsbürger“ auch waschechte Systemfeinde und Neonazis wie etwa der Holocaustleugner und ehemaliger RAF-Rechtsanwalt Horst Mahler, der schon vor Jahren auf die Seite der Rechten wechselte.

Die meisten „Reichsbürger“ weisen den Vorwurf, sie seien Nazis, entschieden zurück. Die bürgerliche Fassade soll stets gewahrt werden. Auch auf der Seite der RBU wird schon ganz am Anfang der Eindruck erweckt, hier sei aus der Vergangenheit gelernt worden: „Es lebe Deutschland!“, habe der Widerstandskämpfer Graf von Stauffenberg vor seiner Erschießung gerufen. „Er meinte mit Deutschland das Reich – an das sich die Mitglieder der Reichsbürger-Union weiter halten wollen“, sagen die „Reichsbürger“.

Heutzutage ist es sehr populär, „unbequeme Wahrheiten“ auszusprechen. Und so gelingt es den „Reichsbürgern“ meist, geschickt in der Masse der Verschwörungstheoretiker unterzutauchen. Hinter der von „Reichsbürgern“ oft zur Schau gestellten Ablehnung von Militäreinsätzen deutscher und europäischer Streitkräfte oder ihrer Feindschaft gegen die Banken und die gelebte Form des Kapitalismus stehen keine modernen, sondern vielmehr uralte und längst gescheiterte Staatskonzepte, die auf nationalistischen Theorien zu Wirtschaft und Gesellschaft basieren.
Viele „Reichsbürger“ sind noch dazu einfach hochkarätige Nazis, die durch ihre Aktionen immer wieder auffallen. So verfasste ein gewisser „Reichsbürger Walther“ im April 2004 einen „Offenen Brief“ an einen Schulleiter in Bernau bei Berlin, in dem er eine baldige Bestrafung androht. Der Grund: „Sie stehen an vorderster Front, wenn es gilt, unsere Jugend mit der Auschwitz-Lüge seelisch zu vergiften“.
Eine Bewegung, mit der viele „Reichsbürger“ in Kontakt stehen, ist das Internetprojekt Nürnberg 2.0 Deutschland. Diese „Erfassungsstelle zur Dokumentation der systematischen und rechtswidrigen Islamisierung Deutschlands“ will alle „Verantwortlichen“ zur Rechenschaft ziehen. 
Der Brandenburger Verfassungsschutz hat Teile der Bewegung als „hochgefährlich“ eingestuft. Deshalb sollte man die „Reichsbürger“ nicht als Spinner wahrnehmen, nur weil sie sich hinter einer Wand von ebensolchen verstecken. Es sind durchaus waschechte, rechte Ideologen, von denen eine Gefahr ausgehen kann.

Das Internet dient ihnen – wie an einigen Beispielen schon verdeutlicht – als Rednerpult, auf Facebook-Seiten scharen sie Anhänger um sich und auf Video-Portalen bringen sie ihre Botschaften unter, ohne zwangsläufig ihre komplette Identität offensichtlich werden zu lassen. So erkennt man z.B. bei Andreas Popp, der im Internet seine Wissensmanufaktur betreibt, nur auf den zweiten Blick, dass er als „Reichsbürger“ die Bundesrepublik Deutschland ablehnt.

Neben Internet-Ideologen gibt es jedoch noch Personengruppen eines anderen Kalibers, die mit den „Reichsbürgern“ in Verbindung stehen: Zum „Deutschen Polizei-Hilfswerk“ (DPHW) folgt morgen der letzte Beitrag der aktuellen Reichsextremismus-Reihe 2013.

Freitag, 18. Oktober 2013

Die "Reichsbürger"-Bewegung (Teil 2)

(Teil 2 meiner Rechtsextremismus-Reihe 2013)

Zahlreiche Staatsgründungen

Die „Reichsbürger-Union“ (RBU) hat nur ca. 50 Mitglieder. Insgesamt dürfte es aber in jedem Bundesland mehr als 100 und in manchen sogar mehrere hunderte von ihnen geben. Auffallend sind vor allem die zahlreichen „Staatsgründungen“, die sich in den letzten Jahren ereignet haben. Erst am 19. Oktober 2012 wurde der „Freistaat Preußen“ (wieder)gegründet – von einem Personenkreis, in dessen Führung auch die brandenburgische NPD-Politikerin Bärbel Redlhammer-Raback agiert. Der Staat „Germanitien“ wurde dagegen schon 2007 geschaffen. Seine derzeitige Präsidentin stammt sogar aus meiner Geburtsstadt... - Es existiert auch eine Neuauflage des zur Zeit der Weimarer Republik existenten „Freien Volksstaates Württemberg“ und seit September 2012 gibt es auch ein „Königreich Deutschland“, am Stadtrand von Wittenberg in Sachsen-Anhalt. Der „König“, Peter Fitzek, wird vom Verfassungsschutz beobachtet.

Flagge der Republik Germanitien
Einige dieser Umtriebe sind also noch recht aktuell, ihren Anfang nahm die organisierte Form der Reichsbürgerbewegung jedoch im Jahre 1985. Damals gründete Wolfgang Ebel in Westberlin die „Kommissarische Reichsregierung des Deutschen Reichs“, den bis heute existierenden Vorläufer aller „Reichsbürger“-Organisationen. Bekannt ist auch eine andere Scheinregierung, die „Exilregierung Deutschen Reich“, die sogar selbsternannte „Reichspräsidenten“ vorweisen kann.

Ein Verein von Spinnern?

Sind die „Reichsbürger“ ein Verein von Spinnern? Der Eindruck könnte durchaus entstehen. Viele Verschwörungstheoretiker, die die Existenz der Bundesrepublik anzweifeln, hängen auch noch anderen Theorien an und vertreten äußerst bizarre Ansichten. So ist zum Beispiel Norbert Schittke, selbsternannter „Reichspräsident“ der sogenannten „Exilregierung des Deutschen Reiches“ der Meinung, dass auch die Kondensstreifen am Himmel, die „ acht Stunden stehen bleiben“, etwas zu bedeuten hätten. Sie seien ein Beweis dafür, dass der Abbau der Menschheit um 85% aktiv betrieben. Politik und Weisheit bzw. Wissenheit verschwimmen hier miteinander. Oft ist es auch ein Mix aus Esoterik, Religion und Nationalismus, der den „Reichsbürgern“ zu Kopf steigt – oder die vermeintliche Chance, durch ein gesetzliches Schlupfloch den Steuerzahlungen zu entkommen. In einer Erklärung des Amtsgerichts Duisburg wird zusammengefasst, dass hinter den Motiven der „Reichsbürger“ rechtsextreme, aber auch finanzielle Absichten sowie ideologische Wahnvorstellungen stecken würden.

Eine Gefahr sind die ideologischen Anführer der „Reichsbürger“ vor allem für jene Menschen, die sich auf ihre Steuertipps einlassen. Vorgedruckte Formulare und Briefe sollen dabei helfen, dem Finanzamt zu trotzen. Oft musste schon mit einer Anzeige rechnen, wer mit den Ratschlägen der „Reichsbürgern“ argumentiert hat, im schlimmsten Fall haben sich Menschen bis über beide Ohren verschuldet. Blinder Glaube an Verschwörungstheorien, naives Wunschdenken und oftmals bloße Dummheit sind Eigenschaften, die den „Reichsbürgern“ entgegenkommen. Diese verbreiten ihre Ansichten über das Internet und auch über Bücher: Meist publizieren die Autoren im Eigenverlag, so auch Hans-Peter Thietz, ein ehemaliges Mitglied der letzten, frei gewählten Volkskammer der DDR. Er vertritt hauptsächlich antisemitische und revisionistische Positionen, aber auch kreationistische und esoterische. In seinem Buch Die Satanisierung des Neuen Testaments behauptet er, Jesus sei gekommen, um den biblischen Gott als von den Juden angebeteten Satan zu entlarven. An anderer Stelle meint er, nicht die Juden, sondern die Germanen seien das auserwählte Volk Gottes. Genau dieser Mann und sein Schriftwerk werden auf der Online-Präsenz der RBU als Lektüre empfohlen.
Viele der „Reichsbürger“ sind Juristen, wie etwa auch der Sprecher der RBU, Runhardt Sander, die sich ein Zubrot verdienen mit dem Verkauf ihrer drittklassigen Schriftwerke voller Rechtschreibfehler oder durch ihre mehr oder weniger schwach besuchten Seminaren, die dem naiven Zuhörer den einen oder anderen Aha-Effekt bescheren. Manche erwecken den Anschein, man müsse alte Werte wieder aufbauen: Der schon erwähnte „Reichspräsident“ Schittke will ein freies, souveränes und weltoffenes Deutschland, in dem die Alliierten nicht mehr machen können, er sieht ein Hauptproblem in der amerikanischen Militärpräsenz.

Die Sache mit den Staatsgründungen und den Kondesstreifen-Verschwörungen könnte ja ganz lustig sein, wenn es nicht noch einige braune Nebenwirkungen geben würde. Mehr dazu in Teil 3 meiner Reihe.

Donnerstag, 17. Oktober 2013

Die "Reichsbürger"-Bewegung (Teil 1)

(Teil 1 meiner Rechtsextremismus-Reihe 2013)

In letzter Zeit bin ich immer öfter über eine Gruppierung gestolpert, von der ich zuvor zwar schonmal etwas gehört hatte, die mir aber dennoch mehr oder weniger unbekannt geblieben ist. Von den sogenannten „Reichsbürgern“ wusste ich, dass sie die Bundesrepublik Deutschland als Nachkriegserfindung der Alliierten ablehnen und dass sie ihre Ablehnung sogar durch selbstgebastelte Personalausweise zum Ausdruck bringen, um ihre Autonomie auf Papier festzusetzen. Doch als ich vor einigen Wochen einen Artikel in der ZEIT gelesen habe, wurde mein Interesse an dieser neurechten Bewegung endgültig geweckt. Es wurde bekannt, dass einer dieser Verschwörungstheoretiker, ein gewisser Daniel S., aus der Haft geflohen war, nachdem man ihn zuvor wegen illegalen Sprengstoffbesitzes festgenommen hatte. Auf seinem Grundstück, das er mit einem Schild („Republik Freies Deutschland“) als unabhängiges Gebiet gekennzeichnet hatte, sammelte der bekennende „Reichsbürger“ Unmengen von „Sprengmitteln“. Im weiteren Verlauf des Artikels war noch davon die Rede, dass bei der Verhaftung ein Mitglied des DPHW zugegen war und für sich in Anspruch nahm, der „einzig wahren deutschen Polizei“ anzugehören. Ich hatte von dieser Organisation noch nie etwas gehört. Nach einigen Klicks im Internet war ich dann schlauer.

Über die „Reichsbürger“ und das riesige Netz, in das sie verwickelt sind, wissen die meisten Deutschen noch zu wenig, wie ich finde. Auch über die Größe des Gefahrenpotenzials, das von dieser Bewegung ausgeht, sind sich viele noch im Unklaren. Bis jetzt sind es meist nur lose Strukturen, die sich aber nach und nach zu einem Netzwerk zusammenfügen, das nicht nur Spinnern, Verschwörungstheoretikern, deutschen Alternativ- und Querdenkern eine neue Heimat bietet, sondern auch knallharten Nazis. – Wer also sind diese „Reichsbürger“? Dieser Frage möchte ich in meiner diesjährigen Rechtsextremismus-Reihe nachgehen.
 
Selbstgebastelte Ausweise und Steuerallergie

Die Bewegung der „Reichsbürger“ lebt heute mit durch das Internet, hat sich aber auch in realen Gruppierungen schon lange organisiert. Sie sind der Meinung, dass die Bundesrepublik Deutschland eine von den Alliierten nach dem Zweiten Weltkrieg gegründete GmbH ist – also eine Firma. Was in so mancher Kabarett-Stube für Erheiterung sorgt, ist bei diesen Ideologen bitterer Ernst. Sie können nicht lachen über die Bezeichnung „Personalausweis“, die uns als Mitglieder des Personals dieser GmbH ausweist. Aus diesem Grund haben die „Reichsbürger“ ihre Personalausweise schon lange zerschnitten, verbrannt und für Ersatz gesorgt. Ja, die haben tatsächlich ihre eigenen Ausweise:


Die „Reichsbürger“ spielen gerne mit Gesetzen und rechtlichen Grundlagen, sie versuchen zu beweisen, dass die Bundesrepublik nicht existiert – ganz im Gegensatz zu Deutschland! Die Bundesrepublik sei mit Deutschland nicht identisch, heißt es. Es gibt auf bestimmten Seiten sogar Formulare und vorgefertigte Erklärungen, die man an Finanzämter und Rathäuser schicken kann, sollte man Bußgelder verordnet bekommen haben – sei es wegen dem Fehlen eines bundesdeutschen Führerscheins oder der Verweigerung von Steuerzahlungen.
Ein Blick auf die zentrale Organisation der meisten „Reichsbürger“, die sogenannte „Reichsbürger-Union“ (RBU), gibt einen genaueren Eindruck davon, wie man im Milieu argumentiert. Schon auf der Eingangsseite der Website der RBU finden sich aufschlussreiche Informationen:

Die deutsche Staatsangehörigkeit beruht seit 1913 auf dem Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz, also einem Reichsgesetz: Alle deutschen Staatsbürger sind somit (nach wie vor) Bürger des Deutschen Reichs (eine besondere Staatsangehörigkeit der „Bundesrepublik Deutschland“ gibt es nicht).

Das Deutsche Reich existiert – sagen seine selbsternannten Bürger, die ihre alten Phrasen und die nationalsozialistische Symbolik eingetauscht haben gegen Gesetzesbücher.