Mittwoch, 19. Juni 2013

19.06.2013: Zur aktuellen Lage in Syrien und zur NGO Relief & Reconciliation for Syria

In der Türkei haben die Demonstranten auf stillen Widerstand umgeschwenkt. Stundenlang stehen sie regungslos auf dem Taksim-Platz und an anderen Orten in der Türkei, um ihren Protest gegen die Regierung zum Ausdruck zu bringen. Währenddessen bezeichnet Ministerpräsident Erdoğan die Räumung des Gezi-Parks vor einigen Tagen als „Sieg der Demokratie“. Er bleibt stur, sieht weiterhin eine innere und äußere „Verschwörung“ gegen sein Land, lässt an nur einem Tag 100 Mitglieder einer linken Partei verhaften. Staatspräsident Abdullah Gül hingegen scheint zu erkennen, dass die Gesellschaft tatsächlich mit Problemen zu kämpfen hat: „Unsere Gesellschaft muss sofort wieder zusammenfinden. Wir haben daran gearbeitet, europäische Rechtsstandards zu erreichen. Wir dürfen nicht zurückfallen. Die Reformen müssen weitergehen“.[1]
Die von Polizeiknüppeln, Tränengas und Chemikalien in den Wasserwerfern angerichteten Schäden dürften tiefer sitzen als die finanziellen Schäden, die durch die Proteste an Geschäften und Schaufenstern verursacht worden sind. Doch diese Schäden ließen sich von einer zwar gespaltenen, aber fortschrittlichen türkischen Gesellschaft wahrscheinlich überwinden.

Nur ein Stückchen weiter im Süden liegt Syrien. Hier sind die Gräben mittlerweile tiefer, das Misstrauen scheint unüberwindbar, der Bürgerkrieg tobt. Auch der Libanon ist betroffen: Hier treffen die Flüchtlingsströme nach acht Tagen des Marsches durch die Berge ein in einer Region, in der das Verhältnis Einwohner zu Flüchtling vielerorts schon 1:1 steht. Ohne Verpflegung haben sich diese Menschen aufgemacht, viele haben auf dem Marsch mehr Angehörige verloren als durch das Bombardement Assads, vor dem sie geflohen sind. Schwerverletzte kommen in libanesischen Krankenhäusern an und werden zurückgewiesen, weil niemand die teuren Operationen und Krankenbetten bezahlen kann.

In Syrien selbst wird der Konflikt immer mehr konfessionalisiert. Die Menschen haben es sich nicht so ausgesucht. Von Anfang an einte sie die Ablehnung des Regimes, Präsident Assad zwang den Bürgerkrieg dann in einen religiösen Kontext – zum Beispiel indem er die Drusen und die alawitischen Gebiete vor Bombardierung schützte. Die christliche Führung, in Europa hausieren geht und die Regierungen davon zu überzeugen versucht, dass es ohne Assad zu einem Völkermord an den Christen kommen würde, steht weiterhin hinter dem Diktator – anders jedoch als große Teile der christlichen Bevölkerung.
Die Situation der Minderheiten ist es, die eine volle Unterstützung der Revolution vonseiten Europas bis jetzt verhinderte. Die Europäer sind verunsichert und abgeschreckt vom Bild des „Dschihad“, des „Heiligen Krieges“, der neuerdings in Syrien propagiert wird. Dabei wird übersehen, dass sich die Gewalt vonseiten der Islamisten nicht gegen die Minderheiten des Landes, sondern fast ausschließlich gegen das Regime wendet. Zudem sind die meisten Kämpfer der islamistischen und salafistischen Gruppen einfache einheimische Stadt- und Landbewohner, die wenig mit salafistischem Gedankengut gemein haben. Der Begriff des „Heiligen Krieges“ hat eine religiöse Dimension in Syrien, doch er richtet sich nicht gegen Christen oder Drusen, sondern gegen das Regime. Er wird teilweise sogar durch die Minderheiten mitgetragen. Noch heute hört man vereinzelt noch die Slogans aus den Anfangstagen, quer durch alle Gruppierungen hindurch:
Freiheit und Menschenwürde!

Gestern, am 18. Juni, war bei uns an der Uni Tübingen ein Vertreter der Nichtregierungsorganisation Relief & Reconciliation for Syria zu Gast. Friedrich Bokern kam direkt aus dem Libanon und referierte zum Thema „Die Lage der Minderheiten in Syrien“, stellte aber auch seine Organisation vor und die aktuellen Probleme, die sich der Hilfe für die Menschen in den Weg stellen und was dennoch getan werden kann. R&R ist keine reine humanitäre Hilfsorganisation, sondern will Friedensarbeit mit praktischer Hilfe verbinden. Es geht – wie der Name schon sagt – um Versöhnung. Politiker werden außen vor gelassen, doch einflussreiche Ansprechpartner vor Ort sollen zusammengeführt werden – nicht nur zum abstrakten Gespräch, sondern zur Schaffung konkreter Konzepte. Die Organisation ist neutral, doch sie prangert Verbrechen an. Und die seien zu einem überwiegenden Teil vonseiten des Regimes verübt worden.
Bokern und den anderen Syrien-Freunden ist es gelungen, im Nordlibanon das erste in einer Reihe von „Friedenszentren“ zu eröffnen, wo Flüchtlingen praktische (bzw. materielle) Hilfe geboten wird, wo aber auch psycho-soziale Arbeit oder Erziehungsarbeit (wie etwa Fremdsprachenkurse) geleistet werden. Unterstützt werden die Projekte von Autoritäten innerhalb der Bevölkerung: Ortsansässige Scheichs im Libanon, Stammesführer innerhalb der Vertriebenen, Imame und christliche Priester.



Friedrich Bokern wirbt für seine Organisation. Und er macht deutlich, dass die meisten Syrer von Europa enttäuscht sind. Die Frage, die fast jeder der 5 Millionen Flüchtlinge in Syrien oder im benachbarten Ausland stellt, lautet: „Warum habt Ihr uns vergessen?“
Europa hält sich aus dem Konflikt weitgehend heraus. Europa hadert mit sich selbst und zögert, Stellung zu beziehen. Währenddessen fühlen sich die Syrer verraten. Hat Europa in Syrien irgendeine Verantwortung? Vielleicht nicht. Aber als die Syrer aufstanden, um die von Europa gepredigten Werte der Freiheit und der Selbstbestimmung zu erkämpfen, bekamen sie keinerlei Rückhalt aus dem Westen. Dabei wollen viele Syrer nicht einmal Waffen. Sie brauchen humanitäre Hilfe, sie wollen im Winter nicht frieren und verhungern. Wären Feldhospitäler zu viel verlangt? Der Westen überlässt die Menschen sich selbst.
Im Westen hat man Angst vor einem neuen Irak. Zudem sieht man mehr und mehr ein, dass der Irakkrieg auf vollkommen falscher Beweislage geführt worden war. Die Politik im Westen wird vorsichtiger. Dabei wäre eine militärische Intervention dieses Mal sogar moralisch gerechtfertigt. Sicher, aus völkerrechtlicher Perspektive wäre ein militärisches Eingreifen in Syrien vonseiten der USA (oder auch Europas) illegal. Im Irak gab es keine Massenproteste, keine Hilferufe an den Westen. In Syrien jedoch gibt es einen Despoten, der am helllichten Tag Stadtteile von Aleppo bombardieren lässt, wegen dem Millionen Menschen auf der Flucht sind. Der Bürgerkrieg hat schon 100.000 Menschen das Leben gekostet. Es gibt keinen anderen Weg als den Fall des Regimes. Die Lage unterscheidet sich grundlegend von der des Irak.

Doch vielleicht kommt endlich Bewegung in die Sache. Beim gestrigen G8-Gipfel[2] hat man sich geeinigt, den Druck auf Assad zu erhöhen. Es sieht aus wie ein Fortschritt, doch Moskau beharrt immer noch darauf, dass Assad in die Verhandlungen einbezogen wird.

Für Friedrich Bokern von R&R ist klar, dass der Syrien-Konflikt nicht so einfach zu lösen ist. In einer Zeit nach Assad hält er sogar eine zeitweise Trennung des Landes für möglich, mit einer von Blauhelmsoldaten geschützten Pufferzone. Die Gefahr von Racheakten besteht, weitere Massaker könnten auch nach Assad noch folgen. Doch das syrische Volk besteht auf der Einheit des Landes. Bokern selbst hat im Bosnienkrieg in den Neunzigern Erfahrungen sammeln können, wie die schrittweise Versöhnung nach der Katastrophe aussehen kann. Die ersten Grundsteine dazu legt Relief & Reconciliation for Syria schon heute. Der Name ist Programm: Aktive Arbeit zur Hilfe der Flüchtlinge und zur Aussöhnung in der Zeit danach.
Bokerns Appell an die Zuhörer: „Tun Sie was!“

(Mehr über die Organisation erfahren Sie hier; Spenden können Sie auch.)



[2] 18. Juni 2013

Sonntag, 16. Juni 2013

16.06.2013: Gezi-Park über Nacht geräumt

Das Auge Europas und der ganzen, von Revolutionen geschüttelten Mittelmeerregion liegt im Moment auf der Türkei und besonders auf Istanbul. Hier ist etwas Größeres im Gange, etwas sehr Europäisches: Gelebte Demokratie, die Demokratie der Straße. Doch die Regierung zeigt wenig Kompromissbereitschaft.
Dabei titelte die Süddeutsche am 14. Juni noch mit der Schlagzeile „Erdogan kommt den Demonstranten überraschend entgegen“. Er habe sich in der türkischen Hauptstadt mit Vertretern der Protestbewegung aus Istanbul getroffen. Im Artikel heißt es: „Noch am Tag zuvor hatte der Regierungschef mit drastischen Worten eine Eskalation der Proteste befürchten lassen. Binnen 24 Stunden werde der Taksim-Platz und der Gezi-Park im Herzen Istanbuls geräumt, drohte Erdogan noch am Donnerstagmittag. Davon war nach dem Gespräch in Ankara keine Rede mehr.“[1] Die Zeitung rechnete mit Entspannung statt Eskalation.
Es kam jedoch etwas anders.

Die Lage in der Türkei eskaliert immer weiter. In der Nacht zum 16. Juni wurde der Gezi-Park am Istanbuler Taksim-Platz von der Polizei geräumt. Aus dem Munde des Stadtgouverneurs Hüseyin Avni Mutlu hört sich das so an: „Es ist erfreulich, dass unsere Aktion im Gezi-Park äußerst ordentlich und problemlos binnen kurzer Zeit abgeschlossen werden konnte. Auch, dass die Demonstranten und Besucher den Park nach unseren Ankündigungen weitgehend geräumt haben. Nach einer kurzen Auseinandersetzung zwischen der Polizei und marginalen Gruppen wurde der Park geräumt. Ansonsten hat es keine Probleme gegeben.“[2]
Es habe keine Probleme gegeben und wenn, dann nur mit marginalen Gruppen. – Die Wahrheit? Wir könnten die Grünen-Chefin Claudia Roth fragen, die im Gezi-Park mit dabei war und von „Krieg gegen die eigene Bevölkerung“ spricht. Oder die zahlreichen Journalisten, die von der Polizei verprügelt wurden. Oder die ausländischen Erasmus-Studenten, die jene Proteste entweder aus sicherer Entfernung beobachteten oder direkt dabei waren. Was in Regierungskreisen als friedlich bezeichnet wird, war in echt eine recht grobe Maßnahme gegen den vehementen Protest, der nicht abklingen will. Bei der Räumung kam es zu erheblicher Gewaltanwendung, Tränengas und Wasserwerfer wurden eingesetzt, später auch Plastikgeschosse. Polizisten haben das Divan Hotel am Taksim-Platz gestürmt, die Lobby füllte sich mit Tränengas. Auch zahlreiche Kinder wurden gestern Abend verletzt. Die Straßenschlachten weiteten sich aus auf einige andere Stadtteile, in denen es bisher eher friedlich geblieben ist. Angeblich wurden 440 Menschen verletzt, schwere Verletzungen wurden nicht verzeichnet. Der Gouverneur spricht von 44 Verletzten. Erstmals kamen so auch paramilitärische Einheiten zum Einsatz, meldet der SWR in seinen Nachrichten. Zahlreiche Oppositionspolitiker und andere Demonstranten seien verhaftet worden.

Heute, am 16. Juni, sind wieder neue Demonstrationen angekündigt. Der Kurs der Regierung ist klar: Jeder, der an der heutigen Kundgebung teilnimmt, gilt als Terrorist, ließ man verlauten.
Wie lange kann Ministerpräsident Erdoğan einen echten Dialog mit den Demonstranten noch ablehnen? Wie lange bleibt sein gerader, kompromissloser Kurs noch legitimierbar – auch in den eigenen Reihen? Die Bevölkerung zeigt deutlich, dass sie das erbarmungslose Prügeln vonseiten der Sicherheitskräfte nicht mehr hinnehmen will. Und es ist nicht mehr so, dass sich an den Protesten nur „marginale Gruppen“ beteiligen würden. Am Samstag gingen die Eltern der Gezi-Park-Besetzer auf die Straße, um die „Parkschützer“ zu unterstützen. Viele, die sich nicht auf die Straße trauen, nehmen trotzdem am kollektiven abendlichen Kochtopfklopfen teil. Und weiterhin marschieren Zehntausende über die Bosporus-Brücke. Der Gouverneur bezeichnete die Bilder dieser Märsche zuvor als Fälschungen, sie seien vom letzten Istanbul-Marathon. Doch Tag für Tag kann man sich nun davon überzeugen, dass etwas im Gange ist. Und dass es sich nicht mehr lange kleinreden lässt.


Dienstag, 11. Juni 2013

Interview: "Ein unverhältnismäßig heftiges und hochgefährliches Vorgehen"

Interview mit Philipp, Istanbul


Philipp, Du bist seit letztem Sommer im Rahmen des ERASMUS-Programmes für Studierende in Istanbul. An welcher Universität studierst Du?
Ich studiere an der İstanbul Üniversitesi, bin an der İlahiyat Fakültesi eingeschrieben, studiere aber vor allem an der İletişim Fakültesi und Arabisch.

Mittlerweile sind zwei Wochen seit dem Ausbruch der Proteste gegen die Regierung vergangen. Wo hast Du die Anfänge der Demonstrationen erlebt?
Bei den ersten Parkräumungen am Mittwoch, dem 29.05, und Donnerstag, dem 30.05, habe ich noch nicht viel vom Protest mitbekommen. Das hat sich am Freitag geändert, als uns unsere Dozentin von der gewaltsamen Parkräumung erzählte, nach der die Polizei die Zelte der Demonstranten in Brand gesteckt hat. Da ich hier noch nicht dabei war, handelt es sich dabei um Berichte von Bekannten. Am Freitag aber habe ich bereits in Kabatas (1km von Taksim) die Wirkung des Tränengases zu spüren bekommen und mich selbst nach Taksim begeben, um mir ein Bild von der Lage zu machen. Dort kam es den ganzen Abend zu unverhältnismäßig heftigen Einsätzen der Polizei, die ich aus unmittelbarer Nähe miterlebt habe. Vereinzelt habe ich in Harbiye Steine werfende Demonstranten gesehen, in Cihangir jedoch, wo ich zu den Protesten stieß, habe ich das Verhalten der Demonstranten als vorbildlich und vollkommen gewaltfrei erlebt. Die Behauptung, die Polizei habe ohne Abwägung der Möglichkeiten und Beurteilung der Situation Pfeffergas eingesetzt kann, ich für die Lage in Cihangir als Augenzeuge unterschreiben.
Am Samstagmorgen, als die Polizeieinsätze weitergingen, war ich nicht in Taksim. Ab dem Abend war ich vor Ort, bis in die Nacht haben tausende Menschen auf dem Taksim-Platz und im Gezi-Park den Rückzug der Polizei gefeiert. Vereinzelt haben Provokateure Wägen von Fernsehsendern demoliert, bis auf diese Ausnahmen war die Stimmung ausgelassen und friedlich.
Am Sonntag sind wir nach Besiktas gegangen, um uns von den dortigen Protesten ein Bild zu machen. Die Zahl der Demonstranten schätze ich auf 3000. Die große Masse blieb in einiger Entfernung der Kampflinie von Demonstranten und Polizei, skandierte Parolen und war organisiert und friedlich. Etwa 20 Demonstranten befanden sich ca. 30 Meter vor der Hauptprotestgruppe in direkter Auseinandersetzung mit der Polizei, errichteten Barrikaden und warfen ausgerüstet mit Gasmaske und Handschuhen die Gaspatronen zurück in Richtung der Einsatzkräfte. Soweit ich dies miterlebt habe, beschränkten sich die Aktivisten dabei tatsächlich auf das Zurückschleudern der Polizeimunition (Pfefferpatronen), ich habe niemanden Steine oder schweres Material werfen sehen. Nach einer Weile begann die Großgruppe der Aktivisten die vorderste Linie des Protests mit Baumaterial zu versorgen (Sandsäcke, Holz, Ziegel) mit deren Hilfe eine Barrikade gegen die Polizei errichtet wurde. Die Barrikade und die Pfeffergas-Strategie der Demonstranten erwies sich als so effektiv, dass die Einsatzkräfte für etwa eine Stunde nicht weiter vorrücken konnten. Schließlich wurde ein Wasserwerfer angefordert um die Barrikade zu überwinden, was nach ca. einer weiteren Stunde gelang. Als die Demonstranten das Areal weiterhin nicht räumten, gaben sich in der großen Gruppe der ca. 3000 nur mit Slogans protestierenden Demo-Teilnehmer etwa 15 Zivilpolizisten zu erkennen, in dem sie mitten in der Menschenmenge Pfeffergas-Granaten zündeten. Unmittelbar von der Wirkung des Gases außer Kraft gesetzt, zogen wir - und 3000 andere Demonstranten - uns schnell aber organisiert in einige Seitenstraßen zurück. Dort öffneten uns Anwohner die Türen um uns vor dem Gas und der Polizei in Sicherheit zu bringen. Insbesondere den Einsatz des Pfeffergases innerhalb der friedlichen Masse der Demo-Teilnehmer beurteile ich als ein unverhältnismäßig heftiges und hochgefährliches Vorgehen. Dass beim fluchtartigen Rückzug niemand zu Schaden kam ist lediglich der Besonnenheit und Organisation der Demonstranten selbst zu verdanken, die trotz der Wirkung des Gases die Ruhe bewahrten. Nach etwa einer weiteren Stunde zog die Polizei ab und wir konnten die Wohnung wieder verlassen.

Wie viel bekommst Du selbst von den Demonstrationen mit? Haben die Proteste auch Einfluss auf das Leben auf dem Campus? 
Da gerade Klausurvorbereitungen sind, finden weitgehend keine Vorlesungen statt. Was ich miterlebt habe, ist dass viele Studenten ihrer Arbeit nachgehen, ohne sich umfassend für die Proteste zu interessieren. Neben einem sicherlich entscheidenden Teil der Bevölkerung, der sich an den Protesten beteiligt gibt es auch einen Teil, der die Eskalation der Proteste Provokateuren unter den Demonstranten zuschreibt oder sich schlicht nicht beteiligen möchte.

Wie berichten die türkischen Medien seit Beginn der Proteste über die Vorkommnisse? Hat sich ihre Haltung während der letzten Wochen verändert?
Das türkische Fernsehen hat bis auf wenige Ausnahmen in den ersten Tagen nichts von den Protesten gezeigt und diese auch nicht in den Nachrichten erwähnt. Als Medienstudent ist dies für mich in selbem Maße verwerflich wie die Heftigkeit der Polizeieinsätze, ein Gegenbeweis für eine freie Berichterstattung und ein Missbrauch der Pflicht, die Bürger objektiv über die Vorkommnisse im Land zu informieren. 
In den Tageszeitungen war ein etwas anderes Bild zu sehen. Diese haben die Eskalation am Freitag und Samstag weitgehend kritisch und unverblümt thematisiert, zum Teil auch über Interviews und Zitate die Regierung in die Pflicht genommen und Unmut über die Heftigkeit des Vorgehens geäußert.

Ministerpräsident Erdoğan hat sich nach der Rückkehr von seiner Afrika-Reise wenig kompromissbereit gezeigt. Wie reagieren die Demonstranten?
Soweit ich das beurteilen kann hat der Großteil der Demonstranten mit keiner anderen Haltung des Ministerpräsidenten gerechnet. Sie führen ihren friedlichen Protest im Gezi-Park fort und äußern ihre Meinung. Wenn Erdoğan Gesprächsbereitschaft zeigen würde, denke ich nicht, dass sich die Demonstranten einem Dialog verweigern würden.

Wie lässt sich der Hintergrund derjenigen beschreiben, die auf die Straße gehen? Sind es spezielle Gruppen, die demonstrieren?
Es sind vor allem Studenten, Künstler, Kurden, Kemalisten und Linke würde ich sagen, wobei sich auch Nationalisten und die "Muslime gegen Kapitalismus" beteiligen. Was den sozialen Stand und das Alter betrifft sind alle Schichten vertreten.

Man kann nicht leugnen, dass die Demonstrationen nun schon eine ganze Weile andauern. In den deutschen Medien erschien der eine oder andere Kommentar, der die Proteste am Taksim-Platz schnell in Verbindung mit dem Arabischen Frühling gebracht hat. Was denkst Du darüber? 
Ich sehe den Vergleich mit dem Arabischen Frühling sehr kritisch. Erdoğan ist erst kürzlich mit beinahe 50 Prozent der Volksstimmen im Amt bestätigt worden und erfährt auch weiterhin großen Rückhalt. Es handelt sich hier nicht um einen Protest des gesamten Volkes gegen eine totalitäre Regierung, sondern um einen Teil des Volkes der sich erzürnt nicht gehört zu werden. Soweit ich das beurteilen kann, ist es ein Novum, dass sich ein so großer Teil der Bevölkerung geschlossen Gehör verschafft und das ist unter demokratischen Gesichtspunkten ein immenser Gewinn. Die Türkei ist allerdings kein Nordafrikanisches Königreich sondern eine Republik inklusive Verfassung und Parteienvielfalt. Meiner Meinung nach ist das richtige Mittel gegen die Autoritätsansprüche der im Moment starken AKP kein Sturz, Putsch oder Bürgerkrieg, sondern Aufklärung und politische Bildung - ein Prozess der mehr Zeit in Anspruch nimmt als einen Frühling.

Danke für das Gespräch!

Genmais für Europa

Gestern, am 10. Juni 2013, haben die EU-Kommission und die Mitgliedsstaaten über die Legalisierung der genetisch veränderten Maissorte SmartStax beraten und abgestimmt. Bei der Abstimmung kam keine Mehrheit zustande - weder für die Befürworter noch für die Gegner. Nun wird man in einigen Wochen erneut darüber abstimmen, ob der von Monsanto und Dow AgroSciences entwickelte Mais als Futter- und  Lebensmittel innerhalb der EU zugelassen werden soll.

Gegner der Gentechnik sind alarmiert. Zunächst hieß es, dass Monsanto sich aus Europa zurückziehen wolle, weil die Gentechnik hierzulande auf wenig Zustimmung stoße. Allerdings wurden Aussagen fehlinterpretiert: Von einem Rückzug kann de facto keine Rede sein, schreibt die Süddeutsche Zeitung. Der Antrag vor der EU-Kommission ist ein deutliches Zeichen. Monsanto will sich den europäischen Markt bewahren.

Welche Gefahren birgt SmartStax? Diese Maissorte wurde durch die Kreuzung mehrerer genetisch veränderter Sorten entwickelt. Insgesamt sind hier acht fremde Gene verpflanzt. Der Mais produziert eigenständig einen Mix aus verschiedenen Insektengiften und ist zudem resistent gegen zwei Unkrautgifte, darunter das für den Menschen schädliche Glyphosat. Der Mais ist mit Rückständen dieser Herbizide belastet.
Zwar hat die EFSA, die europäische Lebensmittelbehörde, in der Vergangenheit eine positive Risikobewertung zu SmartStax abgegeben, doch diese stützte sich im Wesentlichen auf die Dossiers des Herstellers - also Monsanto.

Wieso wurde in Brüssel über die Erstzulassung von SmartStax abgestimmt? Christoph Then von der Organisation TestBiotech interpretierte diesen Schritt der EU-Kommission als "Flucht nach vorne". Im letzten Jahr gab es nämlich Hinweise darauf, dass der bislang verbotene Genmais auf illegalem Wege auf den europäischen Markt gelangt sei. Es scheint so, als wolle man jetzt nachträglich eine Legalisierung einleiten.

Die Kritik an der Grünen Gentechnik, d.h. an der Anwendung von Gentechnik in der Pflanzenzucht, hat vor allem ideologische Gründe. So kann man Gentechnik aus religiösen oder ethischen Gründen ablehnen. Andere ethische Aspekte fordern jedoch geradezu, dass man auf gentechnisch verändertes Saatgut zurückgreift, um z.B. den Welthunger zu bekämpfen. Kritiker verweisen jedoch hauptsächlich auf die gesundheitlichen Folgen, die eventuell durch verwendete Pestizide auftreten könnten, oder auf Genprodukte als Träger von Allergenen. Wissenschaftliche Untersuchungen belegen jedoch nicht eindeutig, dass genetisch veränderte Pflanzen ein tatsächliches Gesundheitsrisiko für den Menschen bergen.
Ein Grund, der Gentechnik kritisch und ablehnend gegenüberzustehen, ist jedoch das Unternehmen Monsanto selbst, dass weltweit den Markt dominiert und sogar politische eine gewisse Macht besitzt. Durch Hybridsaatgut, das sich nur zur einmaligen Aussaat eignet, werden Kleinbauern in die Abhängigkeit getrieben. Auch kommt das immer stärker werdenden Verändern von Pflanzen-DNA einem "Wettrüsten auf den Äckern" gleich, so Christoph Then von TestBiotech.

Bundesverbraucherschutzministerin Ilse Aigner steht der Gentechnik selbst kritisch gegenüber und hatte nicht vor, für den Antrag vor der EU-Kommission zu stimmen. Sollte die Abstimmung jedoch auch beim zweiten Mal ohne Ergebnis bleiben, könnte die EU-Kommission selbst entscheiden - über einen von ihr selbst eingereichten Antrag. Eine Enthaltung von Aigner kommt einer Ja-Stimme zugunsten des Genmaises - und auch zugunsten Monsantos - gleich. Deshalb fordern Organisationen wie TestBiotech dazu auf, sich selbst an die Ministerin zu wenden und eine Nein-Stimme zu fordern. (Protest-Emails finden Sie hier.)

Montag, 3. Juni 2013

Mehr als ein Zwicken für Erdoğan (M. Perseke)

Ein Gastbeitrag von Max Perseke, Istanbul

Seit fast einer Woche erlebt der Ministerpräsident der Türkei, Recep Tayyip Erdoğan, die schwersten Proteste seit seinem Amtsantritt vor zehn Jahren. Hunderttausende demonstrierten am Wochenende, die Aufstände weiteten sich auf weite Teile der Türkei aus.

Der türkische Innenminister Muammer Güler erklärte am Sonntag, dass seit dem 28. Mai auf 235 Demonstrationen in 67 der 81 türkischen Provinzen 730 Demonstranten festgenommen wurden. Die Demonstrationen zur Erhaltung des Gezi-Parks, der letzten großflächigen Grünfläche im Zentrum Istanbuls, haben sich zu Protesten gegen Erdoğan und seine Regierungspartei AKP (Adalet ve Kalkınma Partisi) entwickelt. Rund um Taksim und den Gezi-Park singen am Samstag Zehntausende lautstark "Hükümet! Istifa!" sowie "Tayyip! Istifa!" und fordern den Rücktritt („Istifa“) der Regierung („Hükümet“) sowie Erdoğans eigenen Rücktritt. Im Namen der AKP steht „Adalet“ für Recht und „Kalkınma“ für Aufschwung. Im Zentrum des Gezi Parks ist am Samstag ein Plakat angebracht – deutlich über den Köpfen der Demonstranten, für jeden einsehbar – mit der Aufschrift „Adalet 1938de öldü!“ („Das Recht ist im Jahre 1938 gestorben!“) – Mustafa Kemal Atatürk starb 1938...

Auf dem Taksim-Platz und im angrenzenden Gezi-Park versammelten sich am Samstag 
zehntausende Menschen, um gegen die AKP-Regierung zu demonstrieren. 
(Foto: Max Perseke)
Um Atatürk, den ersten Präsidenten der 1923 gegründeten Türkischen Republik, wird bis heute ein beispielloser Personenkult in der Türkei betrieben. Der „Vater der Türken“ war ein angebeteter Kriegsheld und hat auch mit westlichen Ideen zum Fortschritt seines Landes beigetragen, die Türkei als laizistischen Staat etabliert. Zudem liebte Atatürk den Anisschnaps Rakı, der als Nationalgetränk der Türken gilt. Recep Tayyip Erdoğan hingegen hat kürzlich das Joghurtgetränk Ayran zum Nationalgetränk der Türken erkoren und dadurch ein großes – und durchaus amüsiertes – mediales Echo bei vielen seiner Landsleute hervorgerufen. Hinter Erdoğans Liebe zu Ayran steckt jedoch politischer Ernst. Der Zugang zu Alkohol wird in der Türkei seit einigen Jahren stetig erschwert. Erdoğan gilt als Neo-Osmanist, der eine konservativere Gesellschaft formen möchte. Im internationalen Vergleich der Pressefreiheit stürzt die Türkei ab, Regelungen zur Abtreibung werden verschärft.

Viele der Demonstranten berufen sich auf Mustafa Kemal Atatürk, 
den „Vater der Türken“ und Begründer des Kemalismus.
(Foto: Max Perseke)
An den Demonstrationen für den Erhalt des Gezi-Parks, der einem modernen Shopping-Center weichen soll, nahmen von Beginn an Anhänger der verschiedensten politischen Gruppierungen teil. Es sind nicht nur reine Kemalisten, die der AKP eine neo-liberalistische Politik samt Vetternwirtschaft vorwerfen, sondern z.B. auch muslimische Organisationen. Seit den frühen Morgenstunden am Freitag setzt die Polizei Tränengas und Pfefferspray gegen die Demonstranten ein. In den sozialen Medien haben besonders Videos, die den gezielten Abschuss von Tränengaspatronen auf Demonstranten zeigen oder Polizeipanzer, die über Demonstranten hinwegrollen, für Empörung gesorgt. Erdoğan selbst spricht von der Verbreitung falscher Informationen, bestätigt aber, dass der Einsatz von Pfefferspray und Tränengas durch die Polizei untersucht werden müsse.

Mit Hilfe von Smartphones werden Videos von Demonstrationen innerhalb kürzester 
Zeit in die Sozialen Medien eingespeist und geteilt. In deutschen Städten, in Wien, 
selbst in den USA hat sich somit schon eine große Unterstützerbewegung für die 
Demonstranten in Istanbul und der Türkei gebildet. (Foto: Max Perseke)

Max Perseke lebt seit 2012 im Istanbuler Stadtteil Fatih und studiert an der Istanbul Üniversitesi. Er schreibt für die Saale Zeitung (Bad Kissingen).