Samstag, 9. November 2013

Gedanken zum 9. November

Der 9. November ist ein geschichtsträchtiges Datum für Deutschland und auch für Europa. Eigentlich ist er das schon immer gewesen. Am 9. November 1848 wurde der Publizist und demokratische Politiker Robert Blum in Wien hingerichtet. Die Märzrevolutionen, die bis nach Österreich übergeschwappt waren, brachten noch keinen Durchbruch der Demokratie. Den historischen 9. November kennen wir aber spätestens seit dem Jahr 1918, als die Demokratie den ersten Etappensieg einfuhr: Am 9. November rief Philipp Scheidemann vom Westbalkon des Reichstages in Berlin die Republik aus. Der Krieg war zu Ende, Deutschland schaffte seine Monarchie ab. Diese erste Republik konnte sich jedoch nicht etablieren und mündete in das Dritte Reich. Zwanzig Jahre nach Einführung der Demokratie brannten im ganzen Land die Synagogen. Inszenierter Volkszorn, SA-Männer in Zivil und Uniform – und ein Volk, das zuschaute. Ein Jahr später gab es Krieg. Deutschland versetzte Europa um Jahrzehnte zurück, Armeen hinterließen verbrannte Erde, Elend und Massengräber. Der Neuanfang teilte das Land, oder vielmehr die Welt in Ost und West. Grenzzäune und Mauern hatten vierzig Jahre lang Bestand. Heute ist es nun 24 Jahre her, dass man eine Regelung beschlossen hatte, welche DDR-Bürgern den Grenzübertritt ermöglichte. Nachdem Kohl und Gorbatschow schon Hammer und Meißel an den bröckelnden Beton angelegt hatten, brachte Günter Schabowski vom SED-Politbüro die Mauer vollends zum Einsturz. Er musste dem Druck der Straße weichen – und wahrscheinlich auch dem Druck der Diplomaten, der Wirtschaft – oder dem Druck der Geschichte. Seitdem hat der 9. November ein wenig sein negatives Image aufpoliert, das ihm die Schande der Reichspogromnacht auferlegt hatte. Heute ist er gleichermaßen ein Mahnmal für die dunklen und die fröhlichen Tage der Geschichte. Übrigens, der 9. November 1993 war der Tag, an dem die alte Brücke von Mostar im Bosnienkrieg zum Einsturz gebracht wurde. Dieser Tag im Herbst, der sich alle Jahre wiederholt, mahnt, wenn man so will, für die Zukunft. Brücken und Mauern sind starke Symbole. Denn auch heute noch werden Völker von Mauern getrennt, denken wir nur einmal an Israel und die Palästinenser. Mauern und Trennzäune sind selten etwas Gutes, auch wenn sie zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich bewertet werden.
Eigentlich sollten wir Brücken bauen und Mauern einreißen, nicht andersrum.

Montag, 4. November 2013

Desilussionierung

(Presseschau)

Zur deutsch-amerikanische Freundschaft nach der NSA-Affäre habe ich im August 2013 einen Kommentar von Jens Jessen in der ZEIT gefunden. Damals war die Überwachung des Merkelschen Kanzlerhandys noch nicht bekannt, das Fazit war aber dasselbe:

"Wir brauchen [...] eine Desillusionierung über den Charakter unserer Beziehung. Das Gerede von Freundschaft muss ein Ende haben und der nüchternen Einsicht in gegenseitigen Nutzen und gemeinsamen Interessen weichen - und zwar dort, wo sie wirklich bestehen. [...] Übrigens wäre es auch aus pädagogischen Gründen hilfreich, wenn sich Deutschland emotional von Amerika etwas abnabeln würde. Das Land, nun schon seit zwei Jahrzehnten in die volle Selbstständigkeit entlassen, muss lernen, auch sicherheitspolitisch, auch in der Terrorabwehr auf eigene Verantwortung zu handeln. Selbstverständlich im Bündnis mit den USA, selbstverständlich als loyaler Verbündeter und gerne auch etwas großzügiger und weniger ängstlich als in der Vergangenheit. Aber als erwachsener Partner und nicht als alter Säugling, der noch immer nach der Mutterbrust greift und wehklagt, wenn Mama mal was anderes zu tun hat oder sich über das Quengeln des kleinen Schreihalses kalt hinwegsetzt."

Stimmen zur NSA-Affäre (aus dem FOCUS)

(Presseschau)

In seiner aktuellen Ausgabe hat der FOCUS (44/2013, S. 34f) einige unterschiedliche Stimmen zur NSA-Ausspähaffäre aufgefangen, die von Empörung, Vertrauensbruch, aber auch von Naivität sprechen.

Viviane Reding, EU-Kommissarin für Justiz, Grundrechte und Bürgerschaft, spricht von einem Weckruf: „Muss denn erst Frau Merkels Handy angezapft werden, damit sich führende Politiker in Europa darüber klar werden, dass solche Datenskandale jeden Tag, jede Minute geschehen können?
Wolfgang Ischinger, ehemaliger deutscher Botschafter in den USA, prangert jedoch die Blauäugigkeit der Europäer an. Schon während seiner Zeit in den USA war ihm bewusst, dass Telefone von Geheimdiensten abgehört werden. Zur Schwere der aktuellen Affäre sagt er dennoch: „Der Vorgang ist eine enorme Belastung und der größte Stresstest für die transatlantischen Beziehungen. Es ist ein großer Vertrauensbruch, und es wird nicht ganz einfach sein, das in Ordnung zu bringen. Die US-Geheimdienste sind offenbar außer Rand und Band geraten, haben Maß und Mitte verloren.
Auch Jack Janes geht auf das undurchsichtige Vorgehen der Geheimdienste ein und meint: „Wenn der Präsident tatsächlich von nichts wusste, dann frage ich mich, wer in Washington eigentlich die Hosen anhat.“ Janes, der Präsident des American Institute for Contemporary German Studies an der John Hopkins University in Washington ist, bezeichnet die Aufdeckungen als ein „Schlag in die Magengrube“ der Pro-Atlantiker.
Weniger naiv zeigt sich Charles Kupchan, ein ehemaliger Berater von Bill Clinton und Mitglied des Council on Foreign Relations. Er sagte dem FOCUS: „Dass Freunde auch Freunde ausspionieren, ist gängiges Geschäft. Auch Frau Merkel betritt morgens das Kanzleramt und bekommt erst einmal ein Geheimdienstbriefing vorgelegt, das genau aus solchen Spionageaktivitäten in Großbritannien, Frankreich oder Polen zusammengestellt wird.
Der Forschungsdirektor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, Eberhard Sandschneider, schließt sich in dieser Hinsicht an: „Wenn sich jemand wundert über die Abhöraktionen, dann wundert das wiederum mich.“ Er stellt in Hinblick auf die Beziehung zwischen Deutschland und den USA fest: „Wir sollten die deutsch-amerikanischen Beziehungen nüchterner betrachten und die USA als das sehen, was sie sind: ein Land mit eigenen Interessen. Da bleiben auch strategische Partner manchmal auf der Strecke.
Doch nicht nur die USA sind in der aktuellen Diskussion zu beschuldigen. David Hamilton, ehemaliger Europa-Experte im US-Außenministerium, gibt eine Erklärung dafür, warum US-Spione nicht alle Erkenntnisse mit ihren deutschen Kollegen teilen: „Die deutschen Geheimdienste sind so sehr von Spionen anderer Länder infiltriert, dass sich die USA nie sicher sein können, ob die ausgetauschten Informationen nicht gegen sie verwendet werden.“ Dies sei aber keine Entschuldigung dafür, das Handy der Kanzlerin anzuzapfen.
So wie Hamilton die deutschen Geheimdienste in ein eher schlechtes Licht erscheinen lässt, so stellt auch Günter Blobel, deutsch-amerikanischer Medizinnobelpreisträger, der deutschen Informationstechnologie ein Armutszeugnis aus. „Es ist nicht sehr vertrauenserweckend, dass die Merkel-Regierung nicht in der Lage ist, Firewalls in ihre Kommunikationssysteme einzubauen.

Verschiedene Stimmen, verschiedene Erkenntnisse. Doch fest steht auf jeden Fall, was auch schon vorher nie bezweifelt worden ist: Das Geschäft der Geheimdienste ist ein schmutziges. Und davon sind sowohl die der USA als auch alle anderen betroffen. Um uns zu schützen, brauchen wir neue Gesetze und Richtlinien aus Berlin und Brüssel, deren Umsetzung irgendwie garantiert werden muss. „Nur wenn Bürger und Unternehmen fest darauf vertrauen, dass Regeln eingehalten werden, wird in Europa ein echter digitaler Binnenmarkt entstehen“, sagt Viviane Reding dazu.

Samstag, 2. November 2013

Neue "Studiengebühren" für Studienanfänger in Baden-Württemberg?

Wollen die Grünen wieder Studiengebühren einführen? Ganz so heftig wird es wohl nicht kommen, aber die Planungen sehen scheinbar vor, dass einige Studierende demnächst bis zu 100 € Gebühren für Bewerbungsgespräche an Universitäten zahlen sollen. So steht es zumindest im Entwurf für ein neues Hochschulgesetz. Außerdem sollen Angebote, die nicht direkt etwas mit dem eigenen Studiengang zu tun haben – wie etwa Computer- oder Sprachkurse – kostenpflichtig werden.
Noch gibt es dazu genau eine Meldung in den Medien, deswegen lohnt es vielleicht gar nicht, großen Wirbel wegen dieses einen Gesetzentwurfs zu machen. Andererseits, manche angehenden Studierenden bewerben sich bei mehr als einer Uni. Soll man allein deshalb jetzt jedes Mal 100 € zahlen? Und ist nicht eine der großen Möglichkeiten, die das Universitätsstudium bietet, der zusätzliche und gut zugängliche Erwerb von Sprachkenntnissen und anderer Zusatzqualifikationen, ohne irgendwelche Gebühren zahlen zu müssen? Der Sprecher des Wissenschaftsministeriums, Jochen Schönmann, meinte unterdessen, dass der Vorschlag noch nicht fix sei und dass die Anhörung zu diesem Gesetzentwurf erst beginne.

Aber vielleicht sollten wir diese Sache doch mal im Auge behalten…

Universitätsstadt Tübingen

Antisemitismus in Deutschland - Zur ARD-Reportage (28.10.2013)

Am 28. Oktober 2013 gab es in der ARD eine ziemlich interessante Reportage zum Thema Antisemitismus in Deutschland heute. Um mal so viel vorweg zu nehmen: Auch wenn die kurze Beschreibung in der ARD-Mediathek anderes vermuten lässt, geht es nicht ausschließlich um muslimische Judenfeindschaft in Berlin. Die Dokumentation ist meiner Meinung nach nicht so voreingenommen, wie sie sich zunächst präsentiert. Denn vor allem dann, wenn beim Thema Antisemitismus auch der Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern angesprochen wird, ist das Risiko von Missverständnissen groß. In der Reportage geht es aber auch um viel bedeutendere Facetten: Judenhass in der bürgerlichen Mitte, Vorurteile, Klischees und abgetrennte Schweinsköpfe.

(Zur Dokumentation geht' hier.)

Natürlich ist es nicht ganz einfach, das komplette Thema in seiner Gesamtheit durch 44 Minuten Film abzubilden. Deshalb bleibt die Dokumentation nicht ganz ohne Angriffspunkte. Dass sich die Unterscheidung von (legitimer) Israelkritik und modernem Antisemitismus auf einem äußerst schmalen Grat bewegt, ist bekannt. Deutlich wird dieser Sachverhalt, als die Macher auf den Boykott von in israelischen Siedlungen hergestellten Waren eingehen. „Boykott heute und gestern“ heißt es im Hinblick auf den Boykott jüdischer Waren zu Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft in den Dreißigerjahren. Trifft dieser Vergleich wirklich zu?
Andererseits wird deutlich, auf welche Erkenntnis die Reportage beim Zuschauer abzielt: „Wenn für Juden, wenn für Israel andere Maßstäbe gelten als für den Rest der Welt – das ist Antisemitismus.“ Und damit liegen die Macher ganz richtig. Untermauert wird diese Feststellung durch aktuelle Umfragen: Etwa 38,4% der Befragten in einer Umfrage des deutschen Innenministeriums äußerten angesichts der Politik, die Israel macht, Verständnis dafür, dass man etwas gegen Juden hat – obwohl das eine mit dem anderen nicht zwangsläufig etwas zu tun hat. Sogar 40,5% der Befragten waren der Meinung, Israel behandle die Palästinenser im Prinzip so wie die Nationalsozialisten damals die Juden – eine These, über die man manchmal zu streiten versucht, die aber keiner wissenschaftlichen Betrachtung standhält.

Natürlich, es gibt zwar weder eine Italienkritik noch eine Islandkritik, aber Kritik an der Politik Israels ist mit Recht sehr wohl erlaubt. Die Bevölkerung von Gaza, einer im Nahen Osten als Hafen- und Handelsstadt seit Jahrtausenden mal mehr, mal weniger bedeutenden Metropole, leidet enorm unter der Blockade durch das israelische Militär. Die Menschen im Westjordanland brauchen wegen der Checkpoints ihrer israelischen Besatzer doppelt oder dreimal so lang auf ihrem Weg zur Arbeit, in die Schule oder ins Krankenhaus und Bauern verlieren ihre Felder an militärische Sperrgebiete und marodierende Siedler. Und bei Luftangriffen auf Hamas-Führer werden teilweise ganze Familien ausgelöscht. Das alles ist kein Geheimnis und lässt sich auch mit dem Sicherheitsbedürfnis des territorial recht kleinen israelischen Staates nicht begründen. Kritik, auch scharfe, ist erlaubt und muss erlaubt sein. Wenn man aber legitime und begründete Kritik nicht äußert mit der Begründung, man würde danach ja als Antisemit gelten, dann ist man selbst schuld, wenn diese legitime Kritik nicht erhört wird.
Die ARD-Dokumentation über modernen Antisemitismus in Deutschland spricht aber von genau denjenigen Menschen, die Israelkritik als Vorwand nehmen, um ihrem Antisemitismus Luft zu verschaffen. Und die sind immer noch erschreckend zahlreich. Viele Israelgegner sprechen im ersten Satz von unterdrückten Palästinensern und im zweiten schon von Geldgier, Weltherrschaft und mitunter auch von krummen Nasen.

Meiner Meinung nach sollte man die Themenblöcke Antisemitismus und Nahostkonflikt oft auch getrennt betrachten. Zwar unterliegen beide Schlagworte einer starken gegenseitigen Beeinflussung, doch das ist nur die halbe Wahrheit. Wenn man die Fülle und Komplexität beider Themen ausschließlich unter dem Vorzeichen dieser Beeinflussung betrachtet und das eine auf das andere zurückführt, übersieht man auf beiden Seiten unendlich viele andere, durchaus bedeutendere Faktoren, deren Vernachlässigung gravierende Folgen haben kann. Der Antisemitismus ist in Deutschland immer noch verwurzelt, wie auch anderswo in Europa.

Die ARD-Reportage ist auf jeden Fall sehenswert und informativ. Man sollte sie unvoreingenommen bis zum Ende anschauen, denn wer will, wird schon nach den ersten Minuten einen Grund zum Einspruch finden – egal welche Meinung er vertritt, denn das hat dieses Thema nun einmal an sich.

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Anmerkungen zum Wort Antisemitismus

Für alle Besserwisser: Ich weiß natürlich, dass „Antisemitismus“ nicht wörtlich „Judenhass“ bedeutet. Zu den „Semiten“ gehören schließlich auch die Araber, obwohl ich glaube, dass weder die einen noch die anderen wirklich von jenem Sem, dem Sohn Noahs, abstammen. Ich schließe mich deshalb dem Duden an, der Antisemitismus offiziell definiert als „Abneigung oder Feindschaft gegenüber den Juden“.