Montag, 29. Juni 2015

Selbstverständnis & Selbstkritik - Deutschland und die EU im Spiegel der Ukraine-Krise

Ich möchte die Demokratie gegen nichts auf der Welt eintauschen. Doch zu einem gesunden Selbstverständnis gehört auch Selbstkritik, besonders in Tagen des Schwarz-und-Weiß-Denkens. Seit dem Beginn der Ukraine-Krise sind die Positionen westlich und östlich der Front klar aufgeteilt, doch macht uns dies nicht alle gleich. Und es täuscht nur kurzfristig über die Probleme hinweg, die wir in Zukunft noch bekommen werden oder schon längst haben. Es besteht Nachholbedarf, an allen Ecken und Enden – und nicht nur in Deutschland. Wenn es um die Aufarbeitung der eigenen Geschichte geht oder um den Umgang mit Menschen ausländischer Herkunft. Dass Lettland noch immer Gedenkmärsche für seine Kriegsteilnehmer aus den Reihen der Waffen-SS abhält, an denen im März 2015 noch 1.500 Männer teilnahmen, kann man als alternative Interpretation europäischer Geschichte deuten. Doch dass der ungarische Präsident auf Wahlkampfplakaten fremdenfeindliche Sprüche gegen Flüchtlinge klopfte, ist ein akutes Problem. Natürlich, die Plakat-Botschaften waren in ungarischer Sprache abgefasst und richteten sich an das ungarische Wahlvolk, doch Fremdenhass (und wahrscheinlich auch schlichtweg Angst vor der Einwanderung) ist ein Problem, dem in vielen Ländern mit Nachsicht und allzu großem Verständnis begegnet wird. Doch abseits der Flüchtlingsproblematik gibt es andere beunruhigende Tendenzen, die sich vor allem im Kontext des Konflikts mit Russland manifestieren. In Litauen wird das Schulfach „patriotische Erziehung“ eingeführt, in Polen formiert sich angesichts der russischen Bedrohung die Federacja Organizacji Proobronnych (FOP, Föderation der Pro-Verteidigungsorganisationen). Dieser Verband soll Freiwillige bündeln und bis in drei Jahren mit 100.000 Mitgliedern in jedem Kreis präsent sein. Eine Aufgabe der Organisation – neben der Verteidigung gegen „den Russen“ – ist die Erziehung der Jugend zum Patriotismus. Ähnliche Bürgerwehren bilden sich auch in den baltischen Staaten. Hilft Vaterlandsliebe gegen Faschismus? Eine Legende, an die noch allzu viele glauben mögen.

Ich liebe die Demokratie. Aber ich zweifle so langsam an unserer. Deutschland profitiert an einem Konflikt, zu dessen Entschärfung auch von europäischer Seite nichts beigetragen wird: Polen hat Ende 2013 einen Kaufvertrag zur Lieferung von 119 deutschen Leopard-Panzern, 18 Bergepanzern und 200 Militär-LKWs unterschrieben. Ende Mai hat Rheinmetall bekannt gegeben, mit einem polnischen Joint Venture einen neuen Radpanzer zu bauen. Die polnische Regierung will 200 Stück kaufen, Umsatz: 300 Millionen Euro. Litauen wird demnächst mit deutschen Panzerhaubitzen und Feuerleitsystemen ausgestattet. Natürlich ist Deutschland nicht der einzige Lieferant. Doch bemerkenswert ist allein schon die Tatsache, dass man viel mehr Mühe in die militärische Hochrüstung zu legen scheint als in diplomatische Friedensbemühungen. Während der Diplomatie die Ausdauer schwindet, beginnt die Wirtschaft zu frohlocken. Ich will Pazifismus...

Ich glaube an die Demokratie und bin der Meinung, dass man ein paar Macken in unserem System durchaus kurieren kann. Aber vielleicht sollten wir erst einmal offen bekennen, dass auch wir einen Propaganda-Apparat betreiben, bevor wir die Medien unserer Kontrahenten verurteilen. Die Deutsche Welle hat seit Mitte Mai ein Abkommen mit den baltischen Staaten und liefert russischsprachige Fernsehbeiträge. Ein Zitat des DW-Intendanten Peter Limbourg: „Mit unseren Programmlieferungen in russischer Sprache tragen wir dazu bei, dass die Menschen Informationen russischer Medien besser einordnen können.“ – Was ist das, wenn nicht Propaganda? Von Deutschland an Russen. Das gleiche macht Russland mit seinem Russia-Today-Büro in Berlin. Und das finde ich nicht gut.
Derweil wird unterbunden, dass Russland seine Minderheiten im Baltikum medientechnisch versorgt. Doch wieso ist es überhaupt nötig, dass sich der russische Staat um Bürger in europäischen Ländern kümmern muss? Vielleicht weil diese gar keine Bürger sind: Nach der Unabhängigkeit der baltischen Staaten bekam die russische Minderheit nur unzureichend die Möglichkeit, die jeweilige neue Staatsbürgerschaft zu erhalten. Nach dem Ende der Sowjetunion wurden diese (meist russischsprachigen) Einwohner staatenlos. Heute leben 91.000 Staatenlose in Estland (laut Amnesty International), in Lettland sind es 300.000 und damit knapp 15 % der Bevölkerung. Wenn wir es als falsch empfinden, dass sich Russland um Russen kümmert, wie stehen wir dann dazu, dass sich das deutsche Innenministerium um deutsche Minderheiten im Ausland kümmert? Eine absurde Frage, oder nicht?
Aufgrund der alltäglichen Diskriminierung in Form von unzureichendem Zugang zu staatlichen Leistungen, Benachteiligung auf dem Arbeitsmarkt und vor allem dem fehlenden Wahlrecht ist die russische Minderheit in diesen Ländern Putin gegenüber zum großen Teil freundlich eingestellt. Doch das können wir nicht verstehen: „Im Nato-Land Estland […] sehen nur rund 30 Prozent der russischsprachigen Bevölkerung das Verteidigungsbündnis [NATO] positiv – obwohl Nato-Jets den Luftraum schützen und inzwischen ständig US-Truppen im Land sind“, schreibt Spiegel Online und wundert sich. Seit April 2014 sind in Lettland, Litauen und Estland jeweils 150 US-Soldaten stationiert, von denen einige an der Militärparade zum estnischen Unabhängigkeitstag teilnahmen – aus mainstreameuropäischer Sicht kann das nur positiv sein.

Wenn wir kein Verständnis für Russland aufbringen können und wollen, dann sollten wir wenigstens einmal ein wenig Unverständnis gegen unsere eigene Politik und ihre unverhohlene Falschheit offenbar werden lassen. Und Empörung. Während unsere Währungsunion am Euro und der Griechenland-Politik scheitert und unsere Werte vor Italien und Spanien zusammen mit 25.000 Flüchtlingen ertrinken, bringen wir es immer noch nicht übers Herz, die erste faulige Tomate zu werfen, die ein erster Anstoß zur Heilung des Systems sein könnte.